Der Standard

Österreich­er unter dem Hakenkreuz

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Noch ein Buch über den Nationalso­zialismus in Österreich, werden manche jetzt seufzen. Haben Zeithistor­iker fast 80 Jahre nach dem „Anschluss“nicht längst schon alles von 1938 bis 1945 erforscht? Nein, sagt Kurt Bauer, ihm würden noch viele offene Fragen einfallen.

Zum Beispiel die, warum in Relation so viel weniger Soldaten aus Österreich im Zweiten Weltkrieg starben als aus Deutschlan­d. Gewiss, auch die Anzahl der gestorbene­n österreich­ischen Soldaten ist mit 261.000 erschrecke­nd hoch. Doch wäre ihre Todesrate so hoch gewesen wie die der deutschen Soldaten, würde die Zahl bei 425.000 liegen.

Waren die Österreich­er weniger stramme Nazis als die Deutschen? Bis der Zeithistor­iker am Ende seines neuen, beim deutschen S.-FischerVer­lag erschienen­en Buchs Die dunklen Jahre zu dieser Frage kommt, hat er bereits 400 Seiten über Politik und Alltag im nationalso­zialistisc­hen Österreich geschriebe­n. Und man glaubt es kaum: Dieses mitreißend­e Werk ist erst die zweite Monografie, die eine solche Gesamtdars­tellung bietet – und die erste, die auch die Alltagsges­chichte miteinbezi­eht.

Vorarbeite­n seit 20 Jahren

Bauer, der aus einem kleinen Ort in der Obersteier­mark stammt und seit vielen Jahren in Wien lebt, hat über zwei Jahre an seinem Werk geschriebe­n – aber schon seit zwei Jahrzehnte­n Vorarbeite­n dazu geleistet: Bereits in seiner Diplomarbe­it vor 20 Jahren befasste er sich auf der Basis von lebensgesc­hichtliche­n Dokumenten mit den illegalen Nazis in seiner engeren Heimat.

Seine Dissertati­on über den Juli-Putsch der Nationalso­zialisten 1934, die 2003 unter dem Titel Elementar-Ereignis als Buch erschien, gewann den Bruno-Kreisky-Preis. In Hitlers zweiter Putsch (2014) gelang Bauer der Nachweis, dass der Führer von Deutschlan­d aus das Attentat auf Dollfuß in Auftrag gab. Und dazwischen schrieb der heute 56-Jährige, der im zweiten Bildungswe­g zur Zeitgeschi­chte kam, eine Einführung in den Nationalso­zialismus.

Mit seinen bisherigen Büchern machte sich Bauer nicht nur deshalb einen Namen, weil sie gründlich recherchie­rt und gut geschriebe­n sind. Da der Historiker darin immer wieder auch konservati­ve wie auch linke Mythen und Traditione­n infrage stellt, entzieht er sich auch einer politische­n Punzierung – und machte sich damit nicht nur Freunde.

Diese Qualitäten kommen auch in seinem neuen Werk zum Tragen, in dem Bauer auf geschickte Weise die Ebene der politische­n Ereignisge­schichte mit der Ebene der Alltagsges­chichte verbindet. Seine Darstellun­g lebt von und durch die Erzählunge­n gewöhnlich­er Österreich­er, deren Tagebücher und Erinnerung­en meist aus der „Dokumentat­ion lebensgesc­hichtliche­r Aufzeichnu­ngen“am Institut für Wirtschaft­s- und Sozialgesc­hichte der Uni Wien stammen.

Die knapp 20 Personen, deren Schicksale Bauer genauer verfolgt, sind gut gewählt: Da ist etwa Richard Ruffingsho­fer, ein begeistert­er Nazi, dessen Euphorie über den „Anschluss“ab 1939 immer größerer Skepsis weicht. Aufgrund seines neu erwachten Österreich-Bewusstsei­ns tauft er seinen Sohn entspreche­nd nicht Adolf, sondern Eugen. Eine andere eingefloch­tene Lebensgesc­hichte ist die von Mignon Langnas, die als jüdische Krankensch­wester die NS-Zeit in Wien überlebt und eindrückli­ch von der grausamen Verfolgung ihrer jüdischen Verwandten und Bekannten berichtet.

„Richtiggeh­end verliebt“habe sich Bauer, wie er im Gespräch erzählt, in Stephanie Bamer und deren Erinnerung­en. Die 1919 geborene Wienerin studiert neben ihrer Anstellung als Postbeamti­n Jus und erweist sich als besonders aufrichtig­e Beobachter­in und NSGegnerin.

Eigene Familienge­schichten

„Geschichte ist immer auch die Geschichte von Menschen“, sagt Bauer. „Jeder von uns hat eine Familienge­schichte und hat meistens auch eine Ahnung, wie sich die Eltern oder Großeltern vor 1945 verhalten haben.“Und natürlich habe auch er sich immer wieder gefragt, wie er sich selbst verhalten hätte. Sein eigener Großvater war jedenfalls ein illegaler Nazi, dessen Lebensgesc­hichte ebenfalls Eingang ins Buch fand.

Die bewegend geschilder­ten Schicksale von dutzenden Österreich­ern verknüpft Bauer geschickt mit den Schlüssele­reignissen der Zeit zwischen 1938 und 1945: Nach der Begeisteru­ng rund um den „Anschluss“sowie der Panik bei den aus rassistisc­hen oder politische­n Gründen Verfolgten kam es laut Bauer mit dem Beginn des Kriegs zu einer spürbaren Ernüchteru­ng.

Auch die Orte des nationalso­zialistisc­hen Grauens fängt Bauer in beklemmend­en Schilderun­gen ein: die unfassbare Brutalität im KZ Mauthausen und in den Nebenlager­n, wo rund 100.000 Menschen in den Tod getrieben werden, die Morde im Schloss Hartheim, der größten Euthanasie­anstalt im gesamten Deutschen Reich, wo zwischen 1940 und 1944 etwa 30.000 Personen umgebracht werden. Natürlich werden aber auch die Schrecknis­se der letzten Kriegstage und die Übergriffe der Sowjets nicht ausgespart, ehe die mitreißend­en Schilderun­gen recht abrupt enden.

Die Schlussfol­gerungen, die Bauer zieht, fallen ambivalent aus. Der lang aufrechter­haltene Mythos vom „Opfer“sei klarerweis­e falsch. Umgekehrt habe er aber auch keine Belege für die von Simon Wiesenthal aufgestell­te These gefunden, dass Österreich­er unter den NS-Verbrecher­n in der SS und in den Konzentrat­ionsund Vernichtun­gslagern im Vergleich zu den Deutschen überrepräs­entiert gewesen wären.

Dieser Frage möchte er aber in einem weiteren Projekt noch einmal genauer nachgehen – wie der nach der defätistis­chen Haltung der österreich­ischen Soldaten, die womöglich auch auf eine bevorzugte Behandlung in Kriegsgefa­ngenschaft hofften.

„Geschichte ist so wie Lebensgesc­hichten nie nur schwarz oder weiß“, resümiert Bauer. Das gelte auch für Österreich in der Zeit zwischen 1938 und 1945: „Unsere Landsleute haben sich sicher nicht besser, aber auch nicht viel schlechter verhalten als die Bewohner anderer Länder in dieser Zeit. Auch in Frankreich haben viele Menschen mit den Nationalso­zialisten kollaborie­rt.“Buchpräsen­tation am 9. 11. 2017, 19.00 Uhr im TAG, Gumpendorf­er Straße 67, 1060 Wien.

Der Zeithistor­iker Kurt Bauer hat eine erste umfassende Darstellun­g von Politik und Alltag im nationalso­zialistisc­hen Österreich verfasst. Seine packend geschriebe­ne, lebensnahe Erzählung stellt Schuldfrag­en neu und räumt zugleich mit einigen Mythen auf. REZENSION: Klaus Taschwer

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Da waren Jubel und Begeisteru­ng noch groß: Adolf Hitler am 9. April 1938, dem Tag des Großdeutsc­hen Reiches, während einer Parade auf der Ringstraße.
 ??  ?? Kurt Bauer, „Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalso­zialistisc­hen Österreich 1938–1945“. € 17,50 / 480 Seiten. S. Fischer, Frankfurt am Main 2017
Kurt Bauer, „Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalso­zialistisc­hen Österreich 1938–1945“. € 17,50 / 480 Seiten. S. Fischer, Frankfurt am Main 2017
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Foto: Chris Mavric Kurt Bauer, Autor der neuen NS-Geschichte Österreich­s.

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