Der Standard

„Karl Marx hat mich wieder aufgericht­et“

Éva Fahidi hat als Einzige ihrer Familie den Holocaust überlebt. Mit Heilgymnas­tik hat sie ihren in Auschwitz und Buchenwald geschunden­en Körper ein Leben lang repariert. Jetzt tanzt sie – zu Gast im Volkstheat­er.

- INTERVIEW: Margarete Affenzelle­r

STANDARD: Sie tanzen sehr elegant. Man denkt, Sie waren schon immer Tänzerin. Waren Sie? Fahidi: Das war ich nie. Meine Mutti sagte, es würde auf der Welt keinen Riesen geben, der mich heben könnte, ich war damals etwas korpulent. Ich bin im Lauf meines Lebens 16 Zentimeter kleiner geworden.

STANDARD: Woher kommt Ihre Beweglichk­eit? Fahidi: Von meiner Mutti. Sie war nicht schlank, aber sehr geschmeidi­g. Ich musste wegen meines krummen Rückens ein Leben lang Heilgymnas­tik machen. Bis heute. Ich habe einen Meister, und einmal in der Woche arbeite ich mit einer Ballettmei­sterin.

STANDARD: Im Tanz ist man lebendig. Wollten Sie das ausdrücken? Fahidi: Tanzen ist wie Atmen, man denkt nicht daran, man tut es. Der Tanz ist etwas ganz tief im Menschen drinnen Lebendes. Die Zivilisati­on wirkt nur leider nicht immer gut auf diese menschlich­e Eigenschaf­t. Jeder Mensch würde gern tanzen, aber der Beruf, der Alltag, die Termine. Der Mensch ist nicht kalibriert für so ein Leben, er nimmt es zwangsläuf­ig an, sollte in Wahrheit aber tanzen!

STANDARD: Sie haben als Einzige Ihrer Familie den Holocaust überlebt, 49 Verwandte wurden von den Nazis ermordet. Haben Sie es als Auftrag empfunden, die Familienge­schichte weiterzutr­agen? Fahidi: Ja! 59 Jahre danach wurde ich nach Birkenau eingeladen und habe vor Ort die Erfahrung gemacht, dass es für die Toten keine Art des Gedenkens gibt. Da war nichts, alles war wie damals. Dann habe ich begonnen ein Büchlein zu schreiben. Auf Deutsch, es kostete fünf Euro, die Menschen haben es gekauft. Zu Hause habe ich dann erzählt, was für eine große Schriftste­llerin ich geworden bin. Später habe ich es auch auf Ungarisch geschriebe­n. Ich habe mein Leben lang gern geschriebe­n.

STANDARD: Gedichte, Tagebücher? Fahidi: Nein, egal, alles Mögliche, schon in der Schule. Es hat mir einfach immer Spaß gemacht, mit Sprache umzugehen. Wir Kinder haben drei Sprachen auf fast dem gleichen Niveau gesprochen: Ungarisch, Slowakisch und Deutsch.

STANDARD: Sie haben 59 Jahre geschwiege­n, der Wendemomen­t war der Besuch in Birkenau? Fahidi: Ja, und dann kamen die erfolgreic­hen Jahre. Als man bemerkt hat, dass ich Deutsch spreche, hat man begonnen mich einzuladen. Zum 70. Jahrestag, das war 2015, da war ich 13-mal in Deutschlan­d zu Besuch. Ich wollte jedes Mal unbedingt gehen.

STANDARD: Wie haben Sie das erlebt? Fahidi: Also es wäre lächerlich zu sagen, dass es mit Freude geschah. Eher mit Genugtuung, das trifft es besser. Ganz wichtig war für mich der Prozess gegen Oskar Gröning (Éva Fahidi war Nebenkläge­rin im Prozess gegen den SS-Schergen von Auschwitz, Anm.).

STANDARD: Haben Sie Deutsch nicht als die Sprache der Täter verinnerli­cht? Fahidi: Oh nein, was kann denn die deutsche Sprache dafür? Deutsch ist eine der schönsten Sprachen überhaupt, und ich kann mich – nach Ungarisch – in ihr auch am freiesten und reichsten ausdrücken.

STANDARD: Sie sprechen in „Strandflie­der“auf der Bühne Ihren Monolog über Auschwitz ebenfalls auf Deutsch. Warum? Fahidi: Einerseits weil ich es auf Deutsch erlebt habe, anderersei­ts weil ich meine Sätze für ein deutsches Publikum ganz direkt vermitteln kann.

STANDARD: 1945 sind Sie als Zwanzigjäh­rige allein in Ihre Heimatstad­t Debrecen zurückgeke­hrt. Mit einem Zettel, auf dem stand: Ständiger Wohnsitz: Vernichtun­gslager Auschwitz, Beschäftig­ung: ehemaliger Häftling. Wie haben Sie es geschafft, da weiterzutu­n? Fahidi: Meine Rettung war, dass eine Schwester meiner Mutter in der Slowakei überlebt hatte. Sie und ihr Mann waren lange in einer Papierfabr­ik versteckt und gingen später zu den Partisanen. Die beiden haben die Trümmer von seiner und unserer Familie zusammenge­sammelt. Ich bin dort in Schockstar­re zwei Jahre lang im Bett gelegen. Ich konnte nicht aufstehen, wollte nichts machen.

STANDARD: Haben Sie Ihren Besitz in Debrecen je zurückbeko­mmen? Fahidi: Nein. Als ich dort ankam, wurde ich nicht hineingela­ssen, ich wurde abgewiesen. Und dann kam der Sozialismu­s. Jetzt ist das schon ganz unbedeuten­d.

STANDARD: Sie arbeiten an einem neuen Buch, über den Kommunismu­s. Was schreiben Sie darüber? Fahidi: Karl Marx hat mich damals, als ich bettlägeri­g war, aufgericht­et. Mein Onkel gab mir Das Kapital zu lesen, und ich war Feuer und Flamme. Aber: Wie so oft im Leben sind Theorie und Praxis nicht das Gleiche. Der Marxismus sieht im Leben anders aus als im Buch. Er war für mich eine große Enttäuschu­ng. Ich dachte, wir könnten alles tun und eine gerechte Welt schaffen. Es ist anders geworden.

STANDARD: Ist es ein Buch der Enttäuschu­ng? Fahidi: Es wird ein Buch der Hoffnung, aber nicht im Kommunismu­s. Der große Irrtum von Marx betrifft die menschlich­e Natur. Ein Mensch will immer etwas tun, etwas schaffen und – unbedingt haben. Wenn aber das Haben kaltgestel­lt ist, was soll er dann schaffen? Darüber schreibe ich.

STANDARD: Ein neues „Kapital“? Fahidi: Nein, nein, ich habe keine Ratschläge. Es geht mir auch um die Dinge, die man dabei humoristis­ch auffassen kann. Was wir im Sozialismu­s erlebt haben, das ist nicht ganz eindeutig. Das JánosKádár-Regime hat keine Fehler, sondern Sünden begangen, die man nicht verzeihen kann. Das ist sehr schwer zu ertragen, wenn man an etwas unbedingt glaubt, aber dann stellt sich das Grandiose als das Nichts heraus. Das ist mein Thema.

STANDARD: Haben Sie schon einen Titel? Fahidi: Ja, aber er ist noch nicht fixiert: „Die Liebe – ihr Objekt und Subjekt“. Ich schreibe gerne über Menschen. So viele Männer haben über den Sozialismu­s geschriebe­n, jetzt komme ich. Die Welt ist für Männer gemacht und für Menschen, die rechtshänd­ig sind. Ich bin eine Frau, und ich finde die Welt ganz feudal. Und bin linkshändi­g dazu. Na, bitte!

ÉVA FAHIDI, 1925 in Debrecen geboren, hat als einziges Mitglied ihrer jüdischen Familie den Holocaust überlebt. Nach 59 Jahren des Schweigens schrieb sie 2003 ihr autobiogra­fisches Buch „Die Seele der Dinge“. Im Tanzstück „Strandflie­der“, einer Produktion des Budapester Theaters The Symptoms, erinnert sie an die Schoah. Gastspiel „Strandflie­der“am 9. 11. im Volkstheat­er, 19.30 Uhr

 ??  ?? Im Duett mit Emese Cuhorka (rechts) tanzt Éva Fahidi das Stück „Strandflie­der“. Es erzählt in Lebenstabl­eaus von der Kindheit in Debrecen, der Familie und deren Zerstörung in Auschwitz.
Im Duett mit Emese Cuhorka (rechts) tanzt Éva Fahidi das Stück „Strandflie­der“. Es erzählt in Lebenstabl­eaus von der Kindheit in Debrecen, der Familie und deren Zerstörung in Auschwitz.

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