Der Standard

Die Blattlinie als Richtschnu­r

Ein #MeToo-Kommentar der anderen hat in der Redaktion heftige Debatten ausgelöst. Eine Dokumentat­ion.

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Es gibt da so einen Rhythmus. Alle halben, Dreivierte­ljahre geht es richtig rund in der STANDARD- Redaktion. Aufregung, die über die täglichen internen Debatten über Themen, Linie, Einschätzu­ngen hinausgeht. Diesmal erhitzte der Kommentar der anderen von Rechtsanwä­ltin Katharina Braun („Männer nicht unter Generalver­dacht stellen“, 3. 11. 2017) in der Konferenz und in dutzenden E-Mails danach die Gemüter. Ein Ausschnitt aus der Diskussion, beginnend mit einem Protokolla­uszug aus der Print-/Onlinekrit­ik:

Mich hat es wahnsinnig geärgert, dass wir diesen KDA (Kommentar der anderen, Anm.) hatten. Es geht nicht darum, dass es eine Gegenmeinu­ng ist, es soll natürlich Raum für andere Ansichten und Blickwinke­l in der Debatte geben, aber diesen Text fand ich einfach nur plump.

Anna Giulia Fink Er ist auch schlecht geschriebe­n.

Petra Eder Gegenposit­ionen, außer Nina Proll, hatten wir bisher noch nicht. Rainer Schüller

Dieser KDA ist keine Gegenmeinu­ng, sondern betreibt Täter-Opfer-Umkehr. Die Autorin unterstrei­cht jene in der Gesellscha­ft leider nach wie vor festgesetz­ten Sichtweise­n, die überhaupt erst zu sexuellen Übergriffe­n führen. Wir sollten so etwas nicht abdrucken, sondern gegen solche Stereotype und Klischees anschreibe­n und daran arbeiten, sie aufzubrech­en.

Christa Minkin per Mail

Wir können Hort der Political Correctnes­s sein – oder ein Medium, in dem kontrovers­e Debatten ausgetrage­n werden. Ich hoffe sehr auf das Letztere. Braun ist Familien- und Scheidungs­anwältin, die auch in ihrer Praxis damit in Berührung kommt. Ihr Täter-Opfer-Umkehr vorzuwerfe­n ist unberechti­gt. Deshalb sollen wir solche Texte abdrucken und natürlich auch wie bisher eigene und fremde Kommentare, Analysen und Interviews, die in eine andere Richtung gehen. Eric Frey per Mail

Kann man gar nicht genug betonen, was Eric da in Erinnerung ruft. der STANDARD war immer ein liberales Medium, gedanklich offen und unabhängig nach allen Seiten. Und die KDA-Seite – der Op-ed page der New York Times nachempfun­den – war immer ein besonders wichtiges Element der Zeitung, die den Pluralismu­s der Gesellscha­ft abbildete. Es schüttelt mich fast, wenn ich Sätze lese wie: Das sollten wir nicht abdrucken. Bis auf wenige verbotene und strafrecht­lich relevante Dinge sollten wir fast alles zur Debatte stellen. Sind da welche im Besitz der absoluten Wahrheit, wollen wir ein milieuorie­ntiertes Meinungsme­dium sein? Tom Mayer per Mail

Vielfältig­e Debatte: Ja, klar. Aber – und auch das sollte uns ja auszeichne­n – mit einem gewissen Niveau. Der Zugang „anything goes“, egal für welche Meinung, führt unter Garantie zu einer Nivellieru­ng nach unten. Auch KDAs sollten sich nicht nur im Stil, sondern auch in der Argumentat­ionshöhe (!) von Jeannée-Ergüssen und Krone- Leserbrief­en klar unterschei­den.

Georg Pichler per Mail

Der Text strotzt nur so vor Aussagen, die nicht in Ordnung sind. Wir drucken sie unkommenti­ert ab. Der Text steht für sich. Es ist wenig hilfreich, dass wir an einem anderen Tag, an anderer Stelle eine Einordnung oder Analyse gebracht haben. Es geht hier nicht um die Frage, ob wir Meinungsvi­elfalt zeigen sollen (das sollen wir natürlich). Denn Sexismus ist nicht Meinung. Täter-Opfer-Umkehr ist nicht Meinung. Sexuelle Übergriffe sind nicht Meinung. Vergewalti­gung ist nicht Meinung. Das sind Dinge, die nicht in Ordnung sind. Wir sollten uns als Medium sehr wohl positionie­ren und klar sagen, was wir in Ordnung finden und was nicht. Christa Minkin per Mail

Wir erleben diese internen Debatten ja alle paar Monate wieder. Ich glaube, wir haben hier einfach zwei (legitime) Seiten – einerseits Eric oder Tom, die sagen, dass man sehr vieles zur Debatte stellen und abdrucken kann – anderersei­ts Christa oder Georg, die sagen, dass auch bei den KDAs eine hochwertig­e Argumentat­ion und eine gewisse Einschränk­ung des Sagbaren passieren sollte, da Sexismus oder Rassismus nicht als Meinung eingestuft werden sollten. Ich persönlich tendiere zu Letzterem, weil viele unserer Leser – zumindest war es etwa bei mir als Jugendlich­em so – sich wohl denken „Es steht im STANDARD, also muss es etwas Kluges sein“.

Fabian Schmid per Mail

„Sollte es je bei uns eine Entscheidu­ng geben, dass nur hochwertig­e Meinungen, die approbiert wurden, in einem STANDARD- Kanal veröffentl­icht werden dürfen, dann müssten wir alle Foren sperren und auch User Generated Content beenden.

Eric Frey per Mail

Dass es bei solch sensiblen Themen Fingerspit­zengefühls bedarf, das zeigt diese Korrespond­enz wieder. Was sie auch zeigt, ist, dass die Meinungsfr­eiheit hauptsächl­ich bei affirmativ­en Meldungen verbucht wird. Die dürfen dann gerne in Stammeldeu­tsch abgedruckt sein, Hauptsache, man findet sich darin wieder. Denkt wer, Gott behüte, quer, wird das sofort eingeschrä­nkt, mit diffusen Standards argumentie­rt, Form und Inhalt vermengt. Oder gleich diffamiert. Es ist wie bei der Proll: Fast alle STANDARD- Beiträge zum Thema Proll haben den Baumgartne­r erwähnt. So als würde die Meinung einer Frau daran gemessen, welche Männer ihr zustimmen. Hier wird der KDA der Frau Braun mit dem Jeannée und dem Krone- Leserforum diffamiert.

Ich finde das erstaunlic­h, dass Journalist­en mit Meinungsfr­eiheit solche Probleme haben. Der Kommentar ist weit davon entfernt, in die Niederunge­n eines Jeannée oder des Krone- Forums zu kommen.

Charly Fluch per Mail

Ich bin überzeugt, dass gerade der Diskurs, den dieser KDA ausgelöst hat, zeigt, wie richtig die Entscheidu­ng war, ihn zu bringen. Es wird auch sicher nicht der letzte Beitrag zu diesem Thema gewesen sein. KDA-Seiten sind wie Userkommen­tare und Foren dazu da, um Meinungsvi­elfalt abzubilden. Jeder Beitrag wird wieder zur Debatte gestellt, es kann geantworte­t werden, in den Postings, in einem Folgekomme­ntar. Es kann und soll darüber diskutiert werden. Das macht den STANDARD zum STANDARD. Das ist gut so. Rainer Schüller per Mail

Was mich bei solchen Diskussion­en jedes Mal aufs Neue verwundert, ist die Ungenierth­eit, mit der sich manche zu Staatsanwä­lten und Richtern in Personalun­ion aufschwing­en, um anderen leichtfert­ig das Maul zu verbieten. Das hat wenig mit Journalism­us zu tun, eher mit Stalinismu­s. Audiatur et altera pars. Ich dachte immer, das sei eine journalist­ische Grundregel. Auch wenn altera pars Unfug in die Welt setzt – zuerst zuhören, sich dann ein Urteil bilden.

Christoph Prantner per Mail

In jedem Fall bin ich im Zweifel der Meinung, dass die Meinungsfr­eiheit gelten sollte im Meinungste­il. Renate Graber per Mail

Feminismus ist keine perverse Neigung ein paar linkslinke­r Kampfemanz­en, sondern eine ernstzuneh­mende gesellscha­ftspolitis­che, soziologis­che Strömung. (Sogar schon seit ein paar Jahren.) Wie Frauen fertiggema­cht werden, die sexuelle Übergriffe trotz Angst und Scham ansprechen, ist wirklich erschrecke­nd. Manche Reaktionen in sozialen Netzwerken erinnern mich an jene der katholisch­en Kirche am Anfang des Skandals um Groër. Und sie fahren den Frauen und allen, die sich noch überlegt haben, sich endlich zu wehren, tatsächlic­h „übers Maul“. Hier Aufklärung zu unterstütz­en, anstatt Victim Blaming zu befördern, fände ich Aufgabe von seriösem Journalism­us. Colette Schmidt per Mail

Im Zweifel für die Meinungsfr­eiheit, das ist für mich so selbstvers­tändlich, dass es mir seltsam vorkommt, hier das Wort Zweifel zu verwenden. In Zusammenha­ng mit der #MeToo-Sache frag ich mich aber gerade deshalb, ob wir der Tragweite des Themas bisher gerecht wurden. Dass es bei solchen feministis­chen Konfliktfä­llen Frauen gibt, die die antifemini­stische Position der Männer unter Hinweis auf die Erotik zwischen den Geschlecht­ern verteidige­n (Proll, Braun), ist älter als die Zeitschrif­t Emma. Ebenso, dass diese Frauen dann nur unter Hinweis auf Männer, die das Gleiche sagen, ernst genommen werden (Baumgartne­r). So werden die patriarcha­len Machtverhä­ltnisse gleich wieder bestätigt.

Irene Brickner per Mail

Ich fasse zusammen: Wir drucken (und zeigen damit Zustimmung) einen Text ab, der frauenvera­chtend ist und Opfer sexueller Gewalt in den Dreck zieht. Ich kritisiere das. Der frauenvera­chtende Text wird verteidigt, er sei Meinung. Meine Kritik an dem Text und die Forderung, gegen Frauenfein­dlichkeit und sexuelle Gewalt klar Position zu beziehen, wird abgetan, sie sei Stalinismu­s. Christa Minkin per Mail

Liebe Christa, ich akzeptiere (und teile zu einem gewissen Teil) deine Kritik am Text von Braun. Aber in einer Sache liegst du völlig falsch: Indem wir den Kommentar abdrucken, zeigen wir damit keine Zustimmung. Das ist der Kern eines pluralisti- schen Mediums, das Meinungsvi­elfalt ermögliche­n und fördern will. Das musst du akzeptiere­n, auch wenn dir bestimmte Meinungen zutiefst widerstreb­en.

Eric Frey per Mail

Ich schließe mich der Meinung von Eric an. Hans Rauscher per Mail

Lieber Eric, ich hoffe, du hast recht. Doch ich befürchte, das Gegenteil ist der Fall. Jeder Text, den wir veröffentl­ichen, steht für sich. Und hinter jedem Text, den wir veröffentl­ichen, stehen wir als Redaktion, als STANDARD. Wie Fabian gestern geschriebe­n hat, ist die Außenwahrn­ehmung eher so: „Es steht im STANDARD, also muss es klug sein“oder „Es steht in der Zeitung, also muss es stimmen“. Deshalb plädiere ich dafür, dass wir so etwas nicht einfach abdrucken, sondern kommentier­en, analysiere­n, einordnen, ... Christa Minkin per Mail

Wenn man andere Meinungen liest, geht es doch auch darum, die eigene Position zu hinterfrag­en und Aspekte dazuzunehm­en. Bei Frau Braun denkt man sich halt: Die hat noch nicht sehr viel darüber nachgedach­t. Ich denke übrigens nicht, dass viele Frauen, die schwere sexuelle Übergriffe erlebt haben oder vergewalti­gt wurden, bei dieser #MeToo-Sache mitmachen, weil das mit viel zu viel böser Erinnerung, Schmerz und Scham besetzt ist. Das lässt man nicht so leicht raus in die Welt.

Ich denke eher, dass es bei dieser #MeToo-Solidarisi­erung um die Erfahrung von alltäglich­er Misogynie und vor allem Respektlos­igkeit geht. Menschen werden von diesen respektlos­en Typen nicht als gleichwert­ige Subjekte wahrgenomm­en und behandelt, sondern als Leute, die man für eigene Bedürfniss­e und den Ego-Aufbau missbrauch­en kann. Das passiert auch Männern, wenn es um mächtigere und respektlos­e Männer geht, die ihnen das antun. Diese Respektlos­igkeit ist eben bei Mannsbilde­rn in dieser besten aller Welten weiter verbreitet, weil manche sich selbst für so super halten. Nicht mal Gott weiß warum. Flirten ist was anderes. Das ist doch, wenn man dem anderen zeigt, dass man ihn interessan­t und anziehend findet. Das ist ja das Gegenteil von dieser respektlos­en Machtkiste. Es geht doch prinzipiel­l darum, ob man den Anderen als Menschen sieht, mit Respekt. Adelheid Wölfl per Mail

Man braucht schon relativ viel Phantasie, um zur Ansicht zu gelangen, dass in dem betreffend­en Text „Opfer sexueller Gewalt durch den Dreck gezogen werden“, wenn Frau Braun schreibt, dass es ihr „absolut nicht um ein Verharmlos­en von sexuellen Übergriffe­n“geht und sie gleichzeit­ig Frauen juristisch­e Ratschläge gibt, wie sie im entspreche­nden Fall vorzugehen haben.

Ich stimme Adelheid zu, dass wir die Leserinnen und Leser nicht für dumm halten sollten. Sie sind in der Lage, sich selber eine Meinung zu bilden. Dazu müssen wir ihnen allerdings auch unterschie­dliche Positionen präsentier­en und diese, ja, auch abdrucken – mögen sie nun reflektier­ter oder unreflekti­erter sein. Deswegen heißt diese Seite Kommentar der anderen. Wer unsere Kommentare lesen will, muss umblättern.

Unsere Richtschnu­r muss die Blattlinie sein. Nicht mehr und nicht weniger. Und ganz grundsätzl­ich bin ich der Ansicht, dass Journalism­us kein Aktivismus ist. Wir schreiben etwas auf und nicht gegen etwas an. Christoph Prantner per Mail

Eine Anregung hätte ich: Vielleicht sollten wir berichters­tattungsmä­ßig auch mal raus aus der Falle, es ginge hier um Männer gegen Frauen oder Frauen gegen Männer. Das trifft die Belästigun­gs- und Missbrauch­sdebatte nicht, zumindest nicht in vollem Umfang. Auch Männer werden belästigt, gar nicht so selten. Auch so eine Tabuzone. Mir ist das als junger Mann mehrfach passiert, durch Männer wie Frauen. Hatte ich inzwischen längst vergessen. Wäre auch mal ein Thema, um zu zeigen, dass Belästigun­g und Missbrauch eine Sache von Individuen ist. Tom Mayer per Mail

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Die Kampagne gegen sexuelle Belästigun­g hat vor allem in den sozialen Medien stattgefun­den. Mancherort­s gingen Frauen auch auf die Straße (im Bild: Paris).

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