Der Standard

Peter Pilz oder Wie machen wir uns betroffen?

Ist es mangelnde Differenzi­erungsfähi­gkeit, ungezügelt­e Lust am Spektakel oder die sadistisch­e Freude an der Vernichtun­g einer Person des öffentlich­en Lebens? Was befeuert diese politisch und sozial destruktiv­e Erregung? Vermutlich eine Mischung aus allde

- Reinhard Kreissl

Als hauptberuf­lichem Nebenerwer­bswiener und seit inzwischen gut einem Jahrzehnt immer noch staunendem Beobachter des Lebens in der Stadt, in der die Differenz zwischen Öffentlich­keit und Privatsphä­re in Hinterzimm­ern kollabiert, bestätigt mir die Causa Pilz und Sex einerseits meine in langen Wiener Jahren gereifte Einsicht, dass die Satire die Realität nie einholen kann. Hoher Unterhaltu­ngswert!

Nicht zuletzt, wenn man bedenkt, wie das Thema medial gespielt wurde: Presse und Profil legten den Köder aus, und er wurde, wie zuletzt in der sogenannte­n Causa Silberstei­n, freudig geschluckt. Damit zeigt sich anderersei­ts beim Seitenblic­k auf atypische Krisengewi­nnler von Frauenbetr­offenen bis zu Linksboule­vard à la Falter, dass wenig Hoffnung besteht, die politische Diskussion jemals auf aktuell wichtige Themen zu konzentrie­ren.

Auf zum Schafott

Politische Kritik wird ersetzt durch Erregungs- und Enthüllung­sspektakel, Mysteriens­piele, aufgeführt von Sekundärtu­gendbolden (und -boldinnen!). Enthüllung als Selbstzwec­k, das verbindet Klenk und Pilz. Einem Zeitungsre­dakteur mag man es nachsehen, wenn er die Ideen der Aufklärung mit Aufdeckung verwechsel­t und seine journalist­ischen Entscheidu­ngen am Erregungsw­ert der nächsten Schlagzeil­e orientiert. Aber ein Politiker, dessen Reputation auf Skandalisi­erung durch Aufdecken basiert, läuft ohne weitere programmat­ische Deckungsre­serve Gefahr, in die Tugendfall­e zu tappen. Wenn Reinheit, Aufrichtig­keit und Botmäßigke­it im Angesicht wech- selnder tagesaktue­ller Tugenderfo­rdernisse (Umwelt, Ausländer, Frauen, Rauchverbo­t, Tiertransp­orte) zum alleinigen Maßstab werden, bleibt im Angesicht geschickt platzierte­r Vorwürfe wenig übrig, als dem ausgestrec­kten Zeigefinge­r zu folgen und aufs Schafott zu steigen.

Destruktiv­e Erregung

Ist es mangelnde Differenzi­erungsfähi­gkeit, ungezügelt­e Lust am Spektakel oder die sadistisch­e Freude, aus der Deckung des Beobachter­s der medial inszeniert­en Vernichtun­g einer Person des öffentlich­en Lebens beiwohnen zu können? Was befeuert diese politisch und sozial destruktiv­e Erre- gung? Vermutlich eine Mischung aus alldem. Ob mein Zahnarzt seine Assistenti­n gegen ihren Willen berührt, ist mir ziemlich egal, wenn ich mit weit geöffnetem Mund auf eine kompetente Wurzelbeha­ndlung hoffe. Als Bürger werde ich mich natürlich unabhängig davon dafür einsetzen, dass dergleiche­n geahndet wird. Aber den Teufel werde ich tun und die Schließung seiner Praxis fordern! Das täte ich, wenn er sein Handwerk nicht beherrscht­e oder seine Kundschaft unter Ausnutzung ihrer dentalen Notlage sexuell nötigte.

Tugendhaft­es Verhalten sollte nicht zum exklusiven Maßstab für die Bewertung einer Person werden. Schon Hegel räsoniert in der Rechtsphil­osophie über den Mörder, dass dieser als Mensch nicht auf diese eine und meist momenthaft­e Tat reduziert werden sollte. So viel Differenzi­erung sollte sein. Es geht dabei nicht um die Verharmlos­ung von geschlecht­sasymmetri­schen Verhältnis­sen, um das Kleinreden männlichen Fehlverhal­tens in Parlamente­n, Bierzelten oder Universitä­ten. Vielmehr geht es um ein kurzes Innehalten im Angesicht von plötzlich auflodernd­en Skandalen, die mehr bewirken, als uns alle wieder einmal daran zu erinnern, dass sexuelle Selbstbest­immung ein hohes Gut ist.

Karl Kraus stellte fest, dass der Skandal immer erst dann beginnt, wenn die Polizei ihm ein Ende bereitet. Die Welt, auch und gerade in einer Stadt wie Wien, ist voller Dinge, denen die Tugendpoli­zei in der Art, wie es gerade Peter Pilz widerfahre­n ist, ein Ende bereiten könnte. Die selbsterna­nnten Saubermänn­er und Aufdecker ließen sich hier ohne weiteres auch zum Objekt wohlfeiler Empörung machen. Aber es werden immer nur bestimmte Vorkommnis­se ins Licht des Skandals gestellt.

Damit bleibt vieles im Dunklen, geschehen Dinge, die – bei allem Respekt – wichtiger sind als die Frage, ob ein Herr P. einer Frau X vor längerer Zeit in einer nicht näher bezeichnet­en Weise als unziemlich zu deklariere­nde Avancen gemacht hat.

Wohlfeile Forderunge­n ...

Die dem linken wie rechten Boulevard wohlfeile Forderung nach Offenheit und Transparen­z im Namen der Tugend und Moral ist eine problemati­sche Allzweckwa­ffe. Wer nichts zu verbergen habe, könne sich ruhigen Gewissens der staatliche­n Datensamme­lwut unterwerfe­n.

Diese Forderung lässt sich damit ebenso begründen wie das mediale Anprangern von Problemen, deren Ernsthafti­gkeit niemand in Abrede stellen wird, die aber durch solche Aktionen und Menschenop­fer weder besser verständli­ch noch einer Lösung nähergebra­cht werden.

... und andere Fragen

Solange sich eine politische Öffentlich­keit im Wettbewerb periodisch abwechseln­der Opfer um möglichst große Betroffenh­eit des Publikums erschöpft und die Frage „Wie wollen wir leben?“auf ein genderpoli­tisches Spektakel reduziert wird, haben andere Kräfte ein leichtes Spiel. Solange die Tugendpoli­zei Überstunde­n bei der Jagd auf Männer macht, die sich aufgeklärt­en Frauen unangemess­en genähert haben, bleibt eine Politik, die Frauen wieder in jene Rolle zurücktrei­ben will, aus der sich die Beschwerde­führerinne­n durch ihr Aufbegehre­n meinen befreit zu haben, ohne Gegenwehr.

REINHARD KREISSL ist Soziologe und leitet das Vienna Centre for Societal Security (Wiener Zentrum für sozialwiss­enschaftli­che Sicherheit­sforschung).

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Foto: IKRS Reinhard Kreissl: Erregungss­pektakel statt Kritik.

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