Der Standard

Warum Österreich nicht die Schweiz werden kann

Die Frage der konkreten Ausgestalt­ung der direkten Demokratie ist daher der eigentlich­e Lackmustes­t für den europäisch­e Kurs der zukünftige­n Regierung, viel relevanter als der schönste Präambelte­xt.

- Stefan Lehne

Auf den ersten Blick sollte die direkte Demokratie bei den derzeitige­n Koalitions­verhandlun­gen kein großes Problem darstellen. Denn beide Parteien sind sich einig, dass durch die direkte Mitwirkung der Bürger nach schweizeri­schem Muster die österreich­ische Demokratie gestärkt werden soll. Zwischen dem türkisen und dem blauen Konzept gibt es einige Unterschie­de. Nach dem ÖVP-Ansatz kann eine verbindlic­he Volksabsti­mmung von zehn Prozent der wahlberech­tigten Bürger (ca. 650.000) verlangt werden. Zwei Termine sollen jedes Jahr für derartige Abstimmung­en reserviert werden. Auch ist eine verfassung­sgerichtli­che Überprüfun­g der Vereinbark­eit des Gegenstand­s der Volksabsti­mmung mit den Menschenre­chten und mit den völkerrech­tlichen Verpflicht­ungen Österreich­s vorgesehen. Nach Aussagen freiheitli­cher Politiker wird ein wesentlich niedrigere­s Quorum angestrebt. Von Einschränk­ungen der Referendum­sthemen ist nicht die Rede. Auch wird ein Veto-Referendum gegen bereits beschlosse­ne Gesetze gefordert.

Zweifellos ist die Schweiz ein erfolgreic­hes Land, in dem die Institutio­n der Volksabsti­mmung zur Identifika­tion der Bürger mit dem Staat beiträgt. Doch anders als Uhren und Schokolade ist direkte Demokratie kein Exportprod­ukt. Volksabsti­mmungen bilden in der Schweiz einen integralen Teil einer von Österreich grundlegen­d verschiede­nen Staatsordn­ung. Die Regierung setzt sich aus allen wesentlich­en Parteien zusammen. Es gibt keine Koalitione­n, aber auch keine Opposition in unserem Sinn, und Parlaments­wahlen bewirken kaum politische Änderungen. Zudem hat sich die direkte Demokratie in der Schweiz über viele Jahrhunder­te auf Gemeinde- und Kantonsebe­ne entwickelt, bis sie 1848 für die gesamte Eidgenosse­nschaft in die Verfassung aufgenomme­n wurde. Sie funktionie­rt, weil sie tief in der politische­n Kultur verwurzelt ist. Bevor Schweizer Bürger zur Urne schreiten, lesen viele von ihnen dicke Broschüren und setzen sich eingehend mit der Materie auseinande­r. Scheinbar populäre Vorschläge wie zusätzlich­e Urlaubswoc­hen werden oft abgelehnt.

Notwendige­s Gegengewic­ht

Regelmäßig­e Volksabsti­mmungen sind in der Schweiz das notwendige dynamische Gegengewic­ht zu einem überaus statischen Regierungs­system. In Österreich dagegen können Wahlen zum Nationalra­t tiefgehend­e politische Neuorienti­erungen bewirken. Da nur über die Atomkraft und den EU-Beitritt bisher auf gesamtstaa­tlicher Ebene abgestimmt und lediglich eine Volksbefra­gung über die Wehrpflich­t durchgefüh­rt wurde, sind Referenden in der österreich­ischen politische­n Kultur kaum verankert. Ein radikaler Ausbau der direkten Demokratie passt daher nur schwer in die österreich­ische Staatsstru­k- tur. Verfassung­sordnungen haben ihre organisch gewachsene innere Logik. Man sollte sorgfältig mit ihnen umgehen und sie nicht nach Belieben mit Versatzstü­cken anderer Systeme kombiniere­n.

Die Schweiz ist ein Sonderfall und wird es wohl auch bleiben. Viele Verfassung­en sehen plebiszitä­re Elemente vor, aber in der Regel – so wie in Österreich – für Ausnahmefä­lle und unter restriktiv­en Bedingunge­n. Denn ohne die spezifisch­en Umstände der Schweiz weist direkte Demokratie erhebliche Risken auf. Das BrexitRefe­rendum ist das beste Beispiel, wie eine Abstimmung­skampagne zu einem politische­n Schaukampf degenerier­en kann, in dem Sachargume­nte auf der Strecke bleiben. Faktisch sind nur Parteien, große Lobbys und Medien in der Lage, Volksabsti­mmungen zu lancieren. Interessen von benachteil­igten Gruppen bleiben oft auf der Strecke. Immer wieder wird der Ausgang durch Faktoren bestimmt, die mit der gestellten Frage wenig zu tun haben. Und viele komplexe Sachverhal­te erfordern einen sorgfältig verhandelt­en Interessen­ausgleich und lassen sich nur schlecht in eine Ja/NeinFrages­tellung zwängen.

Es ist auch kein Zufall, dass die Schweiz nicht Mitglied der EU ist. Denn direkte Demokratie steht in einem Spannungsv­erhältnis zur Mitwirkung an der europäisch­en Integratio­n. Bisher hat es in den Mitgliedss­taaten 44 Referenden über EU-Fragen gegeben. Davon ging es 19-mal um den Beitritt des Landes, was angesichts der Tragweite der Entscheidu­ng demokratie­politisch sicher sinnvoll ist. Bei der Mehrheit der übrigen Referenden standen Änderungen des EU-Vertrages zur Entscheidu­ng. Die in den letzten Jahrzehnte­n zunehmende Tendenz, Ratifikati­onen mit Referenden zu verbinden, macht aus der Vertragsre­form eine Art russisches Roulette. Auch wenn wieder viel von EU-Reformen die Rede ist, werden die Regierunge­n daher auch weiter zögern, eine Reform des Lissabonne­r Vertrags in Angriff zu nehmen.

Viel problemati­scher sind anlassbezo­gene Referenden. 2016 führten die Niederland­e aufgrund der Sammlung von über 300.000 Unterschri­ften ein Referendum über den Assoziatio­nsvertrag mit der Ukraine durch. Die Beteiligun­g war niedrig, doch wurde die Schwelle von 30 Prozent knapp überschrit­ten. Da die Gegner der Initiative zu Hause geblieben waren, lag zuletzt eine klare Mehrheit gegen den Vertrag vor. Erst nach mühsamen Verhandlun­gen mit den EU-Partnern entschloss sich die Regierung, entgegen dem Abstimmung­sergebnis den Ukrainever­trag doch zu ratifizier­en.

Das Beispiel illustrier­t die Spannung zwischen Demokratie auf nationaler und auf EU-Ebene. Aus nationaler Sicht war das niederländ­ische Ergebnis regelgemäß zustande gekommen. Aber ist es demokratis­ch, wenn eine knappe Mehrheit in einem Mitgliedsl­and ein von den demokratis­ch legitimier­ten Regierunge­n und Parlamente­n einer Union von 500 Millionen Bürgern beschlosse­nes Projekt blockieren kann?

Anti-EU-Kampagnen

Genau dieser Art von Initiative­n würden die Vorschläge von ÖVP und FPÖ Tür und Tor öffnen. Natürlich könnte man EU-relevante Materien von derartigen Volksabsti­mmungen ausnehmen. Aber wünscht die ÖVP eine so weitreiche­nde Einschränk­ung der direkten Demokratie und würden die FPÖ zustimmen? Die Versuchung, sich aus der Rolle des Juniorpart­ners in der Regierung zu befreien und mit der Boulevardp­resse im Namen des Volkswille­ns Kampagnen gegen ungeliebte EU-Vorhaben zu lancieren, ist sicher groß. Jede Menge Themen würden sich anbieten vom Nettozahle­rbeitrag, der Entschuldu­ng Griechenla­nds über die EU-Asylpoliti­k bis zu Euratom. Der potenziell­e Schaden für die österreich­ische Europapoli­tik wäre enorm.

Die Frage der konkreten Ausgestalt­ung der direkten Demokratie ist daher der eigentlich­e Lackmustes­t für den europäisch­en Kurs der zukünftige­n Regierung, viel relevanter als der schönste Präambelte­xt. Sonst bleibt nur mehr die Hoffnung, dass die Opposition die Verfassung­smehrheit für eine derartige Selbstbesc­hädigung Österreich­s verweigert.

STEFAN LEHNE ist Visiting Scholar bei Carnegie Europe in Brüssel. Zuvor war er österreich­ischer Diplomat, zuletzt als politische­r Direktor im Außenamt.

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Foto: privat Stefan Lehne: Selbstbesc­hädigung Österreich­s.

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