Der Standard

Die tiefe Spaltung Katalonien­s

Wieder zogen am Samstag Hunderttau­sende durch Barcelona. Doch nicht allen geht es um die Unabhängig­keit Katalonien­s: Manche wollen vor allem eine gerechtere Gesellscha­ft – egal unter welcher Flagge.

- REPORTAGE: Reiner Wandler aus Barcelona

Irgendwie fühlt sich Carlos García fehl am Platz. Überall katalanisc­he Flaggen und Rufe nach Unabhängig­keit. Nein, das ist nicht seine Welt. „Ich bin Antination­alist“, erklärt er. Warum er dann auf eine Massendemo mit 750.000 Teilnehmer­n für ein unabhängig­es Katalonien kommt? „Aus Neugierde. Und wegen des Rufs nach Freiheit für die politische­n Gefangenen.“

Der Aufmarsch im Herzen der katalanisc­hen Hauptstadt ist nicht einfach einer für ein freies Katalonien: Es geht auch um die Freilassun­g der acht inhaftiert­en Mitglieder der abgesetzte­n Regierung und der Vorsitzend­en der wichtigste­n Unabhängig­keitsorgan­isationen; um die Einstellun­g der Verfahren gegen die Mitglieder des Parlaments­präsidiums; und um die straffreie Rückkehr jener fünf Regierungs­mitglieder, die sich nach Belgien abgesetzt haben – unter ihnen der Regierungs­chef Carles Puigdemont. Ihnen allen drohen hohe Haftstrafe­n. Rebellion, Aufstand und Veruntreuu­ng öffentlich­er Gelder – so lauten die wichtigste­n Anklagepun­kte.

Politische Gefangene

„Es sind nicht die einzigen politische­n Gefangenen in Spanien, auch wenn die Unabhängig­keitsbeweg­ung so tut“, erklärt García. Da seien die Basken; dann Gewerkscha­fter, die nach den jüngsten Generalstr­eiks verurteilt wurden; „und natürlich auch jene, die nach der Umzingelun­g des Autonomiep­arlaments angeklagt wurden. Sie protestier­ten gegen die Sparpoliti­k der Partei, der auch Puigdemont und ein Teil der Inhaftiert­en angehören“, so García.

Der 64-Jährige stammt aus Asturien, hat aber sein halbes Leben in Katalonien verbracht: zuerst als Hilfsarbei­ter, dann in der Industrie, im Verlagswes­en, als freier Autor ... Er hat viel gemacht in seinem Leben. García kommt in Begleitung von Non Cadefau (62), einer Ärztin, und von Josep Deop (45) von der Hafengewer­kschaft.

Unabhängig­keit? Deop ist der Einzige der drei, der damit etwas anfangen kann. „Ich war schon immer für ein unabhängig­es Katalonien“, erklärt Deop, der aus einer Arbeiterfa­milie stammt. „Mein Großvater kam von außerhalb und war spanischer Polizist.“

Im Hafen gehört Deop mit seinen Ansichten zur Minderheit, denn „viele der Arbeiter stammen aus dem restlichen Spanien“, erklärt er. Dennoch: „Auch wenn die Unabhängig­keit als solche kein Thema ist: Die Repression ist es schon“, erzählt Deop. Die Hafenarbei­ter beschlosse­n, die Hotelschif­fe der damals nach Katalonien entsandten Polizisten nicht zu bedienen. Und sie nahmen am Streik teil, mit dem die Unabhängig­keitsbeweg­ung auf den brutalen Polizeiein­satz beim Referendum am 1. Oktober reagierte.

„Über die Unabhängig­keit rede ich mit Carlos selten“, erzählt Deop. Sie schwelgen lieber in Erinnerung­en und erzählen sich Anekdoten. García baute einst die Gewerkscha­ftszeitsch­rift für Spaniens Hafenarbei­ter auf. Deop betreute sie anschließe­nd. Der Kampf ist seit Jahren der gleiche: die Abwehr der von Europa diktierten Liberalisi­erung der Branche.

„Meine Sache ist das nicht“

Der Ruf nach Unabhängig­keit ist für Deop eine „klassenübe­rgreifende Bewegung“für ein neues, gerechtere­s Katalonien. García kontert: „Was interessie­rt es mich, ob jemand aus der gleichen Gegend kommt, die gleiche katalanisc­he Sprache spricht wie ich?“Für ihn gehe es um den Widerspruc­h zwischen Arbeit und Kapital. „Das ist meine Identität und sonst nichts. Auch wenn ich jedem das Recht auf nationale Selbstbest­immung zugestehe: Meine Sache ist das nicht.“García träumt von einer Gesellscha­ft, die sich von unten her kollektiv organisier­t. Und mit Flaggen habe das wenig zu tun.

Deop schweigt, dann gibt er zu: Es sei richtig, dass sich viele aus den Reihen des konservati­ven Nationalis­mus der Unabhängig­keitsbeweg­ung angeschlos­sen hätten, doch „das Sagen hat die Straße. Wir wollen eine Republik der Menschen, einen Neuanfang bei null.“Ob man das jemals erreichen werde? Deop ist sich nicht so sicher, denn „der spanische Staat hat die ganze Macht und nutzt sie“.

Mittlerwei­le ist es Nacht geworden. Der Demonstrat­ionszug ist rund dreieinhal­b Kilometer lang, es bewegt sich nichts mehr. Via Video ruft Puigdemont aus: „Keine Gitter, kein Exil können uns entmutigen!“Die Menge skandiert: „Presidente, presidente!“, viele verwandeln mit den LEDLampen ihrer Handys die Kundgebung in ein riesiges Lichtermee­r.

„Ich war nie zuvor auf einer Demonstrat­ion der Unabhängig­keitsbeweg­ung“, erklärt Non Cadefau. Am 1. Oktober sei sie „nur aus Neugierde“zum Wahllokal gegangen. „abstimmen wollte ich eigentlich nicht“. Doch als dann übers Internet die ersten Videos der brutalen Polizeiein­sätze in Barcelona und anderen Städten kamen, „bin ich doch hinein“. Wie sie gestimmt hat, erzählt sie nicht.

„Heute geht es um mehr“, sagt die Ärztin, die sich „eigentlich nicht“für Politik interessie­rt. „Ich will eine gerechtere Gesellscha­ft. Ob das in einem freien Katalonien ist oder in Spanien, das ist mir egal.“García gibt ihr recht, Deop hört zu und schweigt. Cadefau ist die einzige „waschechte Katalanin“der drei. Ihre Vorfahren stammen aus einem Tal oben in den Pyrenäen. „Warum ich dennoch nicht so richtig an die Unabhängig­keit glaube? Vielleicht weil ich so abgeschied­en aufgewachs­en bin, dass Francos Repression keine Rolle spielte“, sagt sie.

Rajoy in Barcelona

Wenige Stunden später kommt Spaniens Ministerpr­äsident Mariano Rajoy nach Barcelona, erstmals seit der Entmachtun­g der Regionalre­gierung. Für den Konservati­ven ist und bleibt es dabei: „Katalonien ist Spanien, und Spanien ist Katalonien.“

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 ??  ?? Freiheit für die Gefangenen – das fordern Carlos García, Non Cadefau und Josep Deop (v. li.). Allerdings aus unterschie­dlichen Motiven.
Freiheit für die Gefangenen – das fordern Carlos García, Non Cadefau und Josep Deop (v. li.). Allerdings aus unterschie­dlichen Motiven.

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