„Mittlerweile kommt man auch ohne Vernunft durch“
Erziehungswissenschafterin Christiane Thompson über Studierende, die vor verstörenden Textpassagen gewarnt werden möchten, Zensur an Universitäten und die Krise des bürgerlichen Gesellschaftsmodells.
STANDARD: Was ist los an den Unis? Oxford-Dozentin Katherine Rundell etwa berichtete laut „FAZ“: „Viele meiner Studenten wollen gewarnt werden, wenn eine Stelle naht, die irgendetwas in Ihnen anrichten könnte.“Als Beispiel nannte sie die Vergewaltigung Lavinias in Shakespeares „Titus Andronicus“. Im STANDARD- Interview erzählte Erziehungswissenschafter Malte Brinkmann, wie er es an der Humboldt-Uni zu Berlin mit der „studentischen Diskurspolizei“zu tun bekam, weil er Immanuel Kant behandelte, in dessen Texten das Wort „Wilde“vorkommt, was ihm – und in der Folge Brinkmann – den Vorwurf des Rassismus einbrachte. Thompson: Es gibt in der Tat eine Tendenz: Studierende sind weniger bereit, sich auf Erfahrungen einzulassen, die ihre Weltsicht herausfordern. Mit „trigger war- nings“sollen Verunsicherung und Verletzung abgewehrt werden. Wir bemerken aber nicht nur diese defensive und immunisierende Haltung. Immer häufiger ist auch eine von Ressentiments und Feindseligkeit geprägte Stimmung wahrnehmbar, die sich etwa gegen Gleichstellung und Feminismus richtet. Auf diese Entwicklungen reagieren die Universitäten mit einer sich ausweitenden Sicherheitskultur, zum Beispiel durch Leitlinien für den Umgang miteinander oder die Absage eines kontroversen Vortrags, bei dem Ausschreitungen zu befürchten wären.
Standard: Für Großbritannien gibt es bereits „Free Speech University Rankings“. Von 115 Unis wurden 2017 nur sieben mit „Grün“für uneingeschränkte Redefreiheit be- wertet, 35 bekamen „Gelb“, und 73 britische Unis, darunter so renommierte wie Oxford und Cambridge, haben in irgendeiner Form zensiert oder verboten. Haben Sie selbst auch Erfahrungen damit gemacht? Thompson: An vielen dieser Unis wurden Leitlinien und Regelungen etabliert, die sich etwa gegen eine „language of offense”, eine verletzende Sprache, wenden. Im deutschsprachigen Raum existieren derartige Regelungen bislang selten, aber es gibt die gleichen Diskussionen. An meiner Universität hatten wir unlängst den Fall, dass eine rechtspopulistische Studierendengruppe eine universitäre Veranstaltung zur Antirassismusarbeit gestört hat. Dieser Fall hat eine Diskussion ausgelöst: Wie sollte man mit den Aushängen dieser Gruppe, die letztlich auf eine Störung der universitären Lehrveranstaltungen hinauslaufen sollen, umgehen?
Standard: Wie sollten Unis damit umgehen, wenn sich immer irgendwer provoziert oder „offended“, also verletzt, beleidigt, fühlt? Es gibt viele Beispiele: In Oxford wurde eine Debatte über Abtreibung verhindert, weil nur zwei Männer für Rede und Gegenrede eingeladen waren, in London drehten Muslime einer iranischen Menschenrechtlerin den Projektor ab, weil sie sich gegen die Verfolgung von Bloggern und inhumane Bestrafungen in einigen islamischen Ländern ausgesprochen und damit den „safe space“der muslimischen Studierenden verletzt habe. Oder besonders skurril, die University of East Anglia untersagte nach Studentenprotesten Sombreros auf dem Campus: Das Tragen der Hüte – ein Werbegeschenk eines nahen mexikanischen Restaurants – könne rassistisch aufgefasst werden. Thompson: Für die Universitäten ist es eine große Herausforderung, mit diesen Fällen angemessen umzugehen, denn oft ist gerade umstritten, wer im jeweiligen Fall die akademische Freiheit einschränkt oder missbraucht. Einige kolportierte Beispiele erscheinen übertrieben oder sogar lächerlich. Sie verweisen aber auf ein Problem: Eine Auseinandersetzung in der Sache wird auf eine Redesituation übertragen und symbolisch aufgeladen. Es folgen Positionierungen in Gruppen und wechselseitige Problemzuschreibungen. Damit beginnt ein Denken in Ressentiments, dem mit einer Einschränkung der Rede nicht beizukommen ist. Universitäten sind gefordert, einen Diskurs zu kultivieren, sodass Konflikte ausgetragen werden können. Es muss darüber gesprochen werden. Zugleich kann ein solcher Diskurs nur gelingen, wenn er unter den Zeichen der Zivilität geführt wird. Das wird oft übersehen, wenn für uneingeschränkte Redefreiheit um jeden Preis votiert wird.
Standard: Welche gesellschaftlichen Transformationen stehen hinter diesen Entwicklungen? Thompson: In den letzten Jahren hat sich an den Universitäten in Deutschland und Österreich ein neues Führungs- und Leitungsmodell etabliert. Die Strukturen des Bologna-Systems haben zu einer Verschulung des Studiums geführt und bei den Studierenden eine „Kundenorientierung“befördert, die sich auf dem Weg hin zu ihrer „employability“wähnen. Diese Strukturen produzieren eine Bereitschaft zur Anpassung: Es wird geleistet, was gefordert wird, aber das hat weniger mit einem selbst zu tun. Ein ganz anders gelagerter Aspekt ist der Verfall des öffentlichen Diskurses, der auf weitergehende gesellschaftliche Transformationen verweist.
Standard: Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von der „Krise des bürgerlichen Gesellschaftsmodells“. Was meinen Sie damit? Thompson: Das bürgerliche Gesellschaftsmodell beruht auf dem Anspruch einer vernünftigen Lebensführung unter Freien und Gleichen. Wo die Bindung an diese Maßgabe schwindet, verlieren auch jene Institutionen die Glaubwürdigkeit, die sich zentral über Vernunft und Aufklärung definieren. Die Rede von „alternativen Fakten“in Zusammenhang mit dem Klimawandel ist ein gutes Beispiel dafür. Die Klimaforschung gerät unter Druck – politisch und ökonomisch. Wissenschaftliche Autorität wird abgewertet und damit zugleich die Haltung, sich in der Beratung und Entscheidung zu Klimafragen an vernünftigen Gründen zu orientieren. Die Moderne hatte es zwar zuvor schon mit der Frage zu tun, wie gut sich Macht und Vernunft wirklich auseinanderhalten lassen. Mittlerweile aber kommt man auch ohne Vernunft durch. Das bringt Demokratie und Wissenschaft an ihre Grenzen.
CHRISTIANE THOMPSON (44) studierte Philosophie, Physik und Pädagogik an der Universität Wuppertal, nach Forschungs- und Lehraufenthalten in Carbondale, Halle-Wittenberg, Fribourg, Hamburg, Wien und Leuven ist sie seit 2014 Professorin für Theorie und Geschichte von Erziehung und Bildung an der Universität Frankfurt. Sie referiert am Mittwoch, 15. November (17 Uhr, NIG, Hörsaal 3D) im Rahmen der Vortragsreihe „Fachdidaktik kontrovers“(Leitung: Konrad Paul Liessmann, in Kooperation mit dem STANDARD) über die „Grenzen von Bildung und Universität heute“.