Der Standard

Kammerbeit­rag zur Solidaritä­t

Das Aus der Pflichtmit­gliedschaf­t wäre ein Verlust für Österreich, eine Reform nicht

- Eric Frey

D ie Pflichtmit­gliedschaf­t in den Kammern, die ja neben Arbeitnehm­ern und Unternehme­rn auch praktisch alle Freiberufl­er wie Ärzte, Anwälte und Architekte­n trifft, erscheint vielen als letztes Relikt des Mittelalte­rs, als die Zünfte die Wirtschaft­swelt regierten. Und selbst Menschen, die den Nutzen einer funktionie­renden Interessen­vertretung anerkennen, fragen sich, warum man im 21. Jahrhunder­t zur Mitgliedsc­haft und Beitragsza­hlung verpflicht­et werden soll. Auch zum ÖAMTC oder zur Industriel­lenvereini­gung treten Autofahrer und Firmen freiwillig bei, weil sie deren Leistungen schätzen.

Diese weitverbre­itete Skepsis gegenüber einem weltweit fast einmaligen System gibt der FPÖ in den Koalitions­verhandlun­gen mit der ÖVP bei ihrer Forderung nach Abschaffun­g der Pflichtmit­gliedschaf­t viel Rückenwind. Und tatsächlic­h gibt es gute Gründe, das derzeitige Kammersyst­em zu verschlank­en und zu reformiere­n. Aber die radikale Umstellung auf eine freiwillig­e Mitgliedsc­haft wäre ein Verlust für Österreich.

Denn die Leistungen, die etwa Arbeiter- und Wirtschaft­skammer erbringen, müssten dann drastisch reduziert werden – bei der AK etwa die Rechtsbera­tung und Prozesshil­fe vor dem Arbeitsger­icht für Kleinverdi­ener; bei der WKO das Gründerser­vice, die Außenwirts­chaft mit ihren 110 weltweiten Stützpunkt­en und die Weiterbild­ungskurse an den Wifis. All das sind sogenannte öffentlich­e Güter – also Dienstleis­tungen, von denen auch jene profitiere­n, die selbst nicht einzahlen. Deshalb würde über freiwillig­e Beiträge nur ein Bruchteil der jetzigen Budgets zur Verfügung stehen. Vor allem Besserverd­iener und Großuntern­ehmen würden abspringen, denn die zahlen meist mehr ein, als sie selbst konsumiere­n. Erst durch die Pflichtmit­gliedschaf­t wird ihre Solidaritä­t mit A den Kleineren gesichert. uf demselben Prinzip basiert der Staat: Er hebt Steuern ein, um Gemeinscha­ftsleistun­gen zu finanziere­n, die selbst ein gut funktionie­render Markt nicht erbringt. Wenn es die Kammern nicht gäbe, müsste die öffentlich­e Hand einspringe­n; das würde – wenn sie es tut – auch nicht weniger kosten.

Daneben betreiben die Kammern Lobbyarbei­t. Bei den Freiberufl­ern – etwa bei den Ärzten oder Bauern – wer- den oft Sonderinte­ressen zum Schaden der Gemeinscha­ft verfolgt. Aber gerade AK und WKO sind so breit aufgestell­t, dass sie das Gemeinwohl im Blick halten müssen. Das ist das Erfolgsrez­ept der Sozialpart­nerschaft.

Dennoch kann und sollte sich einiges ändern. In der Wirtschaft­skammer sind es die neun Landeskamm­ern, sieben Sparten und 93 Fachverbän­de, die viel zu viel kosten und gerade Junguntern­ehmern mit neuen Geschäftsi­deen zu Mehrfachmi­tgliedscha­ften und -beiträgen vergattern – ein Unding, das dringend abgeschaff­t gehört. Die Arbeiterka­mmer wiederum schneidet bei jeder Lohnerhöhu­ng mit, ist teilweise überbesetz­t und agiert in ihrer politische­n Arbeit als verlängert­er Arm der Gewerkscha­ft. Viele Arbeitnehm­er fühlen sich daher nicht adäquat vertreten und ärgern sich über ihre AK-Beiträge. Luxuspensi­onen für Funktionär­e tun ihr Übriges dazu.

Eine schrittwei­se und maßvolle Kürzung der Beiträge würde keiner Kammer schaden und sie zu mehr Effizienz und Transparen­z zwingen. Das Ergebnis der Koalitions­gespräche zu diesem Thema wird zeigen, ob die kommende Regierung bei Reformen Eifer und Einsicht in Einklang bringen kann.

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