Der gute Geist von Mitteleuropa
Das Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) feiert sein 35-jähriges Bestehen. Zwei Erinnerungen eines Journalisten
Wien – Zwei unvergessliche Erlebnisse verbindet der Autor dieser Zeilen mit dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Im europäischen Wendejahr 1989 traf sich am ersten Standort des Instituts in der Goldeggasse im vierten Wiener Gemeindebezirk eine illustre Runde. IWM-Gründer Krzysztof Michalski tauschte sich mit Karl Schwarzenberg, Zbigniew Brzeziński und einigen anderen über die epochalen Umwälzungen aus. Der Eiserne Vorhang war schon fast Geschichte. Fast. Denn Deutschland war noch geteilt. Und das werde es auch bleiben, meinte Brzeziński. Eine Wiedervereinigung sei trotz der offenkundigen Auflösung des Ostblocks unvorstellbar. Moskau werde das nicht zulassen.
Brzeziński, von 1977 bis 1981 Sicherheitsberater des damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter und wie Michalski gebürtiger Pole, galt als ausgewiesener Kenner der geopolitischen Verhältnisse, geprägt vom Kalten Krieg. Mit seiner Ansicht stand er damals keineswegs allein. Aber die Geschichte pflegt sich nicht um vorherrschende Meinungen und Erwartungen zu kümmern. Und so war Deutschland einige Monate nach diesem Treffen wiedervereint.
Politisches Asyl
Die zweite unauslöschliche Erinnerung gilt der russischen Journalistin Anna Politkowskaja. Wegen ihrer schonungslosen Berichte über den Tschetschenien-Krieg und Kritik an Präsident Wladimir Putin mit dem Tode bedroht, er- hielt sie im Oktober 2001 als Visiting Fellow am IWM so etwas wie politisches Asyl. Im Interview berichtete sie, dass drei Tage zuvor in ihrem Moskauer Wohnhaus eine Nachbarin in ihrem Alter von einem Unbekannten ermordet worden sei.
Nach Berichten der Journalistin über Kriegsverbrechen der russischen Offiziere in Tschetschenien hatte ein Major sie als Staatsfeindin bezeichnet, die eliminiert werden müsse. Dieser Major war dann plötzlich unauffindbar. Fünf Jahre nach ihrem Wien-Aufenthalt, im Oktober 2006, wurde Politkowskaja im Aufzug ihres Wohnhauses in Moskau erschossen. Angebliche Täter sind inzwischen verurteilt, die Auftraggeber weiterhin unbekannt. Seinen 35. Geburtstag feiert das IWM in die- sem Herbst. Diese Zeitspanne wird gemeinhin einer Generation zugeschrieben. Wenige Generationen haben Umbrüche erlebt, wie sie die Jahre seit 1982 prägen, in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Arbeit des Instituts, seine ständigen und seine wechselnden Mitarbeiter, seine Projekte und Publikationen spiegeln diese bewegten Zeiten wider. Ungefähr tausend Wissenschafter, Journalisten und Künstler hat das IWM bisher als Fellows und Gäste beherbergt.
Fischer ist Präsident
Seit Jahresbeginn ist Heinz Fischer Präsident des Instituts. Beim 25-Jahr-Jubiläum 2007 hatte der damalige Bundespräsident den Beitrag des Instituts zum Verschwinden des Eisernen Vor- hangs gewürdigt und zugleich auf die neuen Herausforderungen verwiesen: die geistige Neubestimmung Europas sei noch nicht beendet.
Heute ist die Zukunft Europas und der EU einer der Schwerpunkte der Arbeit am IWM (siehe Interview). Die Grundphilosophie des Instituts, seine Raison d’être, gilt unverändert: offener Austausch zwischen Ost und West, zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, zwischen Disziplinen und Denkrichtungen.
Damit verkörpern das Institut, seine Akteure und Förderer die Traditionen eines geistigen und kulturellen Kosmos, der annäherungsweise mit Mitteleuropa umschrieben werden könnte. Wo, wenn nicht in Wien, kann – muss – es so etwas geben? (jk)