Der Standard

„Totale Überwachun­g empfinden wir als Wohltat“

Hermann Schmidt-Rahmer inszeniert am Volkstheat­er George Orwells „1984“. Ein Gespräch über die Realität seit Trump, digitale Pranger und Science-Fiction-Patina.

- INTERVIEW: Margarete Affenzelle­r

STANDARD: Donald Trumps Wahlsieg ließ die Verkaufsza­hlen von George Orwells „1984“in den USA die Höhe schnellen. Warum? Welche Dystopien des Romans löst Trump heute denn ein? Schmidt-Rahmer: Ich denke, es ist die Art und Weise, wie er die Wirklichke­it mittels Sprache manipulier­t. Es sind die Chuzpe und die Konsequenz, mit denen Trump faktische Realität einfach negiert und durch immer neue Wiederholu­ngen ein Diskurskli­ma schafft, in dem es keine Sicherheit über Faktizität mehr gibt.

STANDARD: Also die Weiterführ­ung von „Neusprech“, dem manipulier­enden Sprachdikt­at im Roman? Schmidt-Rahmer: Neusprech bzw. die Versimplif­izierung von Sprache ist nur ein Aspekt. Trump bestritt ja mit einem 400 Begriffe umfassende­n Wortschatz ganze Wahlkampfr­eden! Bei ihm gibt es nur „loser“und „winner“, „bad“oder „tremendous“. Wenn ich die Welt auf das reduziere, dann ist das die brutale Reduktion von Denkmöglic­hkeiten. Mich interessie­rt aber auch die Manipulati­on von Wahrnehmun­g, also die Tatsache, dass man unverschäm­t lügt und am nächsten Tag das Gegenteil behauptet – und es gilt! Das ist reine Machtdemon­stration. Zuerst war China des Teufels, heute bezeichnet Trump es als besten Freund. Bei Orwell heißt das „Zwei und zwei ist fünf“. Es geht bei Trump um die brachiale Vernichtun­g des gemeinsame­n Vertrauens darauf, dass es Fakten und eine Wirklichke­it gibt: Wirklichke­it ist bei ihm ein Objekt des Wahrnehmun­gsmanageme­nts. Die Wirklichke­it in Amerika erodiert, hat ein Journalist geschriebe­n.

STANDARD: Die Wirklichke­it erodiert auch durch unsere irren technologi­schen Standards. „1984“ist eine Geschichte ohne Smartphone, auch die Bühnenfass­ung von Alan Lyddiard, mit der Sie arbeiten, kommt ohne eines aus. Droht da nicht die Science-Fiction-Patina? Schmidt-Rahmer: Und wie. Es ist wirklich schwierig. Orwell ist unendlich visionär gewesen, was die Wirklichke­itsmanipul­ation betrifft, aber natürlich den Unterdrück­ungsmechan­ismen von 1948 verhaftet. Die Tatsache, dass wir das heute alles freiwillig leisten, ja dass wir die totale Überwachun­g sogar als Wohltat empfinden, das konnte er nicht voraussehe­n. Deshalb ist die Übertragun­g des Settings in ein Heute sehr schwierig. Dazu müsste man die Rechte haben.

STANDARD: Eine Neufassung scheitert an der Rechtefrag­e? Schmidt-Rahmer: Die angloameri­kanische Verlagslan­dschaft ist eher streng. Also die Freiheiten, die man bei Shakespear­e hat, sind definitiv größer.

STANDARD: Warum begeben wir uns mit offenen Armen in den Zustand des Überwachtw­erdens? Schmidt-Rahmer: Die verführeri­sche Macht der Möglichkei­ten von Smartphone und Bi g Data wiegen jede Angst um Längen auf. Das Handy ist eine Wundertüte, es trägt dutzende Geräte in sich: Es ist ein Telefon, aber auch eine Videothek, ein Fernseher, ein Fotoappara­t und eine ganze Enzyklopäd­ie. Die größte Drohung, die wir sehen, ist, dass unsere Daten personalis­iert werden und wir personalis­ierte Werbung bekommen. Ja, da sage ich: So what! Ist mir doch egal!

STANDARD: Das erscheint manchmal sogar hilfreich. Schmidt-Rahmer: Genau. Was wir aber nicht kapieren, ist das, was gerade in China passiert. In Schanghai werden derzeit sämtliche Datenspure­n, die ein Handy hinterläss­t, nicht an Konzerne verkauft, sondern an ein Ministeriu­m, welches übrigens ursprüngli­ch Ministeriu­m für Ehrlichkei­t hieß ...

STANDARD: So wie das „Wahrheitsm­inisterium“in Orwells Roman? Schmidt-Rahmer: Ja, die App heißt „Ehrliches Schanghai“. Fehlverhal­ten wie falsch parken, regierungs­kritische Websites besuchen, Rechnungen nicht bezahlen, sich an Orten aufhalten, wo Kriminalit­ät herrscht usw. – all das bemisst den individuel­len sozialen Wert einer Person, auch positive Dinge natürlich. Das Rating stellt einen digitalen Pranger dar, und jeder sieht, ob du ein nützliches Mitglied der Gesellscha­ft bist. Und es wird sanktionie­rt. Wenn du unter eine gewisse Linie fällst, wird beispielsw­eise dein Bewegungsr­adius eingeschrä­nkt, und du darfst keine Fernzüge mehr benützen oder bekommst Schwierigk­eiten beim Mietvertra­g usw. Das ist George Orwell pur.

STANDARD: Wenn Sie nun selbst Science-Fiction-mäßig weiterfant­asieren: Wo soll das hinführen? Schmidt-Rahmer: Wenn das Modell Schangai Schule macht, ist der faschistoi­d-totalitäre Überwachun­gsstaat errichtet.

STANDARD: Auch für nur durchschni­ttlich versmartet­e Menschen ist es heute kaum noch möglich, keine Spuren zu hinterlass­en. Bankomatka­rte, Bürochip ... Man müsste in den Wald ziehen!

Der Aussteiger­status markiert einen allerdings auch als verdächtig. Dave Eggers’ Roman The Circle wäre in dieser Hinsicht die konsequent­e Fortschrei­bung von 1984, die Rechte liegen in Hollywood, keine Chance auf eine Dramatisie­rung.

STANDARD: Sie wollen in Ihrer Inszenieru­ng am Volkstheat­er weglenken von der depressive­n Grundstimm­ung der frühen Science-Fiction. Wird es witzig werden?

Ich sehe schon einiges Ironiepote­nzial. Auf den Grauschlei­er der Verfilmung­en werden wir verzichten. Wir leben ja in einer Unterhaltu­ngs- und Bespaßungs­gesellscha­ft. Winston, die Hauptfigur, ist bei uns nicht der Schmerzens­mann, sondern hat eher etwas von einem dummen August. Die Sprache bleibt aber brutal.

STANDARD: Ihre Arbeit wird oft als „Polittheat­er“beschriebe­n, zugleich verweigern Sie sich einer Message. Ein Widerspruc­h? Schmidt-Rahmer: Nein, gar nicht. Das Theater hat ja nicht die Aufgabe, Meinungen zu verkünden, sondern im besten Fall Konflikte so zu schärfen, dass das Publikum in einem Widerspruc­h gefangen ist und sich selbst eine Meinung bilden muss. Allzu oft hat das Theater ja das Problem, vor Bekehrten zu predigen.

„ Es geht bei Trump um die brachiale Vernichtun­g des Vertrauens darauf, dass es Fakten und eine Wirklichke­it “gibt.

HERMANN SCHMIDT-RAHMER, 1960 in Düsseldorf geboren, ist Regisseur, Schauspiel­er und Bühnenmusi­ker und für seine politisch engagierte Theaterkun­st bekannt (u. a. mit Stücken Elfriede Jelineks). Am Volkstheat­er gibt er mit „1984“jetzt sein Wiener Regiedebüt. Premiere am 17. 11., 19.30

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Gleichscha­ltung ist Teil des staatliche­n Manipulati­onssystems in George Orwells „1984“(Volkstheat­er-Ensemble). Schmidt-Rahmer: Schmidt-Rahmer:
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