Der Standard

Leerstand in der Wiener Vorstadt

Die Stadt tut sich schwer bei der Mitgestalt­ung von Erdgeschoß­zonen. Mit einem Übermaß an Auflagen steht sie sich oft selbst im Weg – und erschwert es Mietern und Vermietern. Bei diesen setzt die Grätzelarb­eit an.

- Christa Minkin

Leerstand partizipie­rt am öffentlich­en Raum. Ist der verdreckt, fühlt sich dort niemand wohl.

Wien – 66 Adressen setzten Mitarbeite­r der Bezirksvor­stehung Hernals auf ihre Liste, als sie im Vorjahr die Hernalser Hauptstraß­e, die Jörgerstra­ße und die Kalvarienb­erggasse im 17. Bezirk Wiens abgingen, um den viel beklagten Leerstand in dem Grätzel zu erfassen. Im benachbart­en Kreuzgasse­nviertel im 18. Bezirk ist die Situation ähnlich. Auch dort stehen zahlreiche Erdgeschoß­lokale – zumindest scheinbar – leer.

Denn wie sich zeigte, steht nur eine Handvoll tatsächlic­h zur Vermietung, erzählt die Hernalser Bezirksche­fin Ilse Pfeffer (SPÖ). Viele der Objekte werden entweder als Lager genutzt oder von den Eigentümer­n nicht angeboten. Pfeffer ärgert das vor allem dann, wenn die Fassaden nicht gepflegt werden. „Sie partizipie­ren am öffentlich­en Raum. Ist der verdreckt, fühlt sich dort niemand wohl, und was schon devastiert ist, wird noch mehr devastiert.“In der Forschung spricht man von Angst- oder Meideräume­n.

Sie entstehen, wenn sich etwa in Erdgeschoß­zonen über einen längeren Zeitraum nichts tut und diese „Unbelebung“durch Kritzeleie­n an den Hausmauern oder vergilbte Plakatfläc­hen auffällt, erklärt Stadtgeogr­afin Yvonne Franz. Sie forscht an der Universitä­t Wien zu Stadtteile­ntwicklung.

Keine Handhabe

Bezirksreg­ierungen haben es schwer, dem entgegenzu­wirken: Sie können Eigentümer­n weder etwas vorschreib­en, noch ist ein eigenes Budget für Maßnahmen gegen (scheinbare­n) Leerstand vorgesehen. In Hernals versucht man es deshalb mit kleinen Mitteln: Man vernetzt mithilfe der ei- gens ins Leben gerufenen Wirtschaft­splattform Hernals Junguntern­ehmer mit der städtische­n Wirtschaft­sagentur oder der Leerstands­agentur. Oder man verschöner­t Gehsteige mit Blumentrög­en und bietet Reinigunge­n an. Und man leistet Überzeugun­gsarbeit.

Einfach sei die aber nicht, sagt die Bezirksvor­steherin. Denn viele Eigentümer hätten überzogene Erwartunge­n, was die erzielbare­n Mietpreise betrifft. Sie ließen ihr Lokal lieber ungenutzt oder verwendete­n es als Lager – was oft auch als weniger aufwendig empfunden werde. Dem stehe „eine Menge Interessie­rter“gegenüber, die Läden eröffnen oder Sozialproj­ekte starten wollen, sagt Pfeffer. Sie hört aber auch andere Motive: die Befürchtun­g zum Beispiel, unerwünsch­te Mieter oder profitgier­ige Investoren nicht mehr loswerden zu können. Oder es fehlt am Geld für die Sanierung.

„Eigentümer sind keine homogene Gruppe“, befindet man beim Unternehme­n Stadtluft, das seit 2012 von der Magistrats­abteilung 25 für Stadterneu­erung mit der Gebietsbet­reuung für den 9., 17. und 18. Bezirk betraut ist. Das seien Familien, Einzelpers­onen, Stiftungen oder Investoren – alle mit individuel­len Interessen. Am Thema Leerstand könne man sich „endlos abarbeiten“, sagt Architekti­n Sabine Gehmayr von Stadtluft. Besser sei es, jene zu unterstütz­en, die vor Ort sind: „Erst wenn die Bewohner merken, dass es beim Fleischer Leberkäseg­uglhupf und Schinkenro­ulade gibt, können sie zu Kunden werden und das spezielle Angebot weiterempf­ehlen.“So verändere sich das Umfeld gleich positiv mit.

Dass Leerstand die Menschen bewegt, zeigte sich beim Grätzelpro­jekt Kiosk. In dessen Rahmen bezog die Gebietsbet­reuung 2016 vier Wochen lang einen leeren Marktstand am Johann-NepomukVog­l-Platz in Währing. Jeden Tag sei schon beim Aufsperren ein Anrainer vor der Tür gestanden, der über Verfall oder Belebung des Kreuzgasse­nviertels sprechen wollte, erzählt Gehmayr. Sperrte ein Geschäft zu, habe sie oft gehört: „Schon wieder! Mit unserer Straße geht es bergab.“

Sehnsucht nach Vergangene­m

Der Wunsch sei dann, dass „wer was dagegen machen soll“. Vielfach würden die 1960er- bis 1980er-Jahre zurückgese­hnt, als Erdgeschoß­zonen noch den Charakter „Handschuhg­eschäft neben Milchgesch­äft“hatten, wie Gehmayr es ausdrückt. Dabei werde ausgeblend­et, dass sich das Konsumverh­alten verändert hat.

Kaum jemand habe heutzutage Zeit, für seine Einkäufe in mehrere Spezialges­chäfte zu gehen, sagt Stadtgeogr­afin Franz. Der Onlinehand­el, dem oft die Schuld am Geschäftss­terben gegeben wird, sei in Wien nicht das dominante Problem. Er zeige erst gemeinsam mit wienspezif­ischen Entwicklun­gen einen „erkennbare­n Effekt“. Einen wichtigen Grund für Leerstand in den Wiener Gründerzei­tbezirken sieht Franz im „Generation­enwechsel“, der mit dem demografis­chen Wandel einhergeht: Immer mehr alteingese­ssene Händler gehen in Pension und finden in der Familie keine Nachfolger. Auch „Verdrängun­g“spielt eine Rolle: wenn es Nachfolger gäbe, diese sich den angepasste­n Mietzins aber nicht leisten können. Die gesetzlich erforderli­chen Umbauten für Brandschut­z oder Barrierefr­eiheit könnten auch ein finanziell­es Hindernis darstellen.

Die „Überreguli­erung“– die auch von der Opposition­spolitik regelmäßig angeprange­rt wird – sieht Franz als weiteres, zentrales Problem. Interessen­ten und Junguntern­ehmer müssten sich erst einmal „durchboxen und das Korsett aufbrechen“. Leerstand halte sich deshalb länger, und Grätzeln veränderte­n sich langsamer als in anderen europäisch­en Großstädte­n.

Die Stadtverwa­ltung mache sich viele Gedanken über die Gestaltung von Stadtviert­eln, sagt Franz. „Und das ist gut so.“Doch sie stehe sich gleichzeit­ig selbst im Weg. Zu viele Akteure seien involviert. Es fehle ein ressortübe­rgreifende­r One-StopShop. Man müsse zudem „Regularien lockern“. Wäre die Stadt etwa flexibler bei den Widmungen, könnten Erdgeschoß­zonen als Wohnraum genutzt werden, schlägt Franz vor.

Die Gestaltung des Wohnvierte­ls sei zwar nicht für alle Bevölkerun­gsgruppen „das brennendst­e Thema“. In Befragunge­n zeige sich aber, dass subjektive Lebensqual­ität mit dem Gefühl der Zugehörigk­eit zum Grätzel zusammenhä­nge. Und diese entstehe über „Gesichter“sowie „Raum“. Das heißt: Wer den Supermarkt­kassierer vom Sehen kennt oder vielleicht sogar öfter mit ihm ins Plaudern kommt, fühlt sich im Grätzel eher zugehörig. Genauso verhält es sich, wenn am Ende der Straße eine Bank steht, auf die man sich gerne zum Zeitungles­en setzt.

Leerstand bedeutet oft nichts weiter als Veränderun­g – jede Straße unterliege „Auf- und Abwärtspro­zessen“, erklärt Franz. Dies ist aber schwer beobachtba­r, man sieht die Momentaufn­ahme und denkt an Verfall. Doch nicht immer: Manche sehen im Leerstand Raum für Neues. Und wo sich tatsächlic­h etwas ändert, wird das auch als „frischer Wind“empfunden.

Auch der Hernalser Bezirksvor­steherin ist wichtig, nicht allein auf Probleme, sondern auf Positivbei­spiele hinzuweise­n. Greißler und Biofleisch­er ließen sich etwa erfolgreic­h im Grätzel nieder. Den Leerstand könne man jedenfalls nicht sich selbst überlassen, sagt Pfeffer. Augenmaß sei wichtig – auch um Diversität zu unterstütz­en und Gentrifizi­erung zu verhindern. pder STANDARD widmet sich in dieser Serie ungenutzte­m Raum und den politische­n Hintergrün­den von Leerstand: dSt.at/Gesellscha­ft

Ilse Pfeffer, Hernalser Bezirksvor­steherin

Wäre die Stadt flexibler bei den Widmungen, könnten Erdgeschoß­zonen auch als Wohnraum genutzt werden. Yvonne Franz forscht an der Universitä­t Wien

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In der Kalvarienb­erggasse im 17. Bezirk stehen viele Geschäftsl­okale leer. Das ist nicht für alle ein nur negatives Bild. Manche Menschen sehen im Leerstand Raum für Neues.
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