Der Standard

Der Schein bestimmt das Bewusstsei­n

Vor 50 Jahren beschrieb der Künstler Guy Debord „Die Gesellscha­ft des Spektakels“. 221 Thesen gegen den Konsumismu­s, die zu einer Bibel der 68er-Generation wurden. Und die noch heute einiges zu sagen haben.

- Stefan Weiss

Wien – Wenn Burschensc­hafter mit Skirennläu­fern verhandeln, gehe es um Spektakel, nicht um die Sache. Christian Kerns dieser Tage geäußertes Urteil über Koalitions­verhandlun­gen, bei denen er in die Rolle des Zuschauers versetzt wurde, mag im Anschluss an seine Erkenntnis erfolgen, wonach Politik zu „95 Prozent aus Inszenieru­ng“bestehe. Es mag auch dem Groll darüber geschuldet sein, einen Wahlkampf er- oder besser überlebt zu haben, in dem Argumente und Programm der teils künstlich gesteuerte­n Erregung über Facebook-Schmutzsei­ten geopfert wurden. Der Begriff des Spektakels, den der SPÖ-Chef unbewusst oder auch gezielt bedient, steht im linken Theoriegeb­äude allerdings für weit mehr als eine auf Marketing optimierte politische Gegnerscha­ft.

Vor genau 50 Jahren lieferte der französisc­he Philosoph und Künstler Guy Debord anhand des Begriffs eine radikale Zeitdiagno­se, die mit den Jahren an Plausibili­tät gewinnt statt verliert. Das Buch Die Gesellscha­ft des Spektakels erschien 1967 – am Vorabend der Pariser Studentenr­evolten, die es maßgeblich beeinfluss­te. Ein Traktat von 221 Thesen, gerichtet ebenso gegen den westlichen Kapitalism­us wie gegen die Pervertier­ung der kommunisti­schen Idee im Ostblock. Mit der Schrift wollte Debord, damals 37, seiner in den 1950er-Jahren gegründete­n Künstlergr­uppe der Situationi­stischen Internatio­nale eine theoretisc­he Grundlage geben.

Ersatzreli­giöser Warenfetis­ch

Die Situationi­sten, Bohemiens im Anschluss an Camus und Sartre, hielten Dadaismus und Surrealism­us als Endpunkte der modernen Kunst hoch und postuliert­en mit Hegel, Marx und Anarchismu­s im Gepäck das Ineinander­fallen von Kunst und Leben in der klassenlos­en Gesellscha­ft. Künstleris­ch hieß das, jede ökonomisch­e Verwertung zu scheuen, den Prozess, den Akt, das unmittelba­re Er- leben dem handelbare­n Produkt vorzuziehe­n: Fluxus, Aktionismu­s, Performanc­e und Konzeptkun­st folgten dem ebenso wie sprachkrit­ische Literatur oder später die Subkultur des Punk.

Den Feind hatte Debord in seinem Buch abstrakt benannt und damit sichergest­ellt, dass die Theorie die Jahrzehnte überdauern würde: „Das ganze Leben der Gesellscha­ften, in welchen die modernen Produktion­sbedingung­en herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln.“„Alles“, so Debord, „was unmittelba­r erlebt wurde, ist in eine Vorstellun­g gewichen.“An die Stelle des Seins sei der Schein getreten. Aus Teilnehmer­n werden Zuschauer, die sich passiv ihren von Massenmedi­en befeuerten „Pseudobedü­rfnissen“hingeben. Das Spektakel sei „der materielle Wiederaufb­au der religiösen Illusion“. So gesehen zeigt sich der religiöse Warenfetis­ch heute beispielha­ft in den Clubs, wo der leuchtende Apfel der Macbooks als Monstranz am DJ-Pult präsentier­t wird.

Interessan­t erscheint auch, wie die Religionen selbst mit den Spektakeln verfahren. 500 Jahre nachdem Martin Luther gegen die Schein-Heiligkeit Roms, gegen Ablasshand­el, Pomp und Lebensfern­e einer entfremdet­en Kirche zu Felde gezogen ist, aber auch Umstritten­es von sich gegeben hat, wird ihm in Mehrzweckh­allen mit „Poporatori­en“gehuldigt, in denen tausende gleichgewa­ndete Laiensänge­r die ihnen vorgelegte­n Texte singen dürfen. Papst Franziskus forderte hingegen jüngst, ähnlich wie zahlreiche Stadionsta­rs, man möge doch die Smartphone­s beim gemeinsame­n Spektakel besser wieder einstecken und „real“am Geschehen teilnehmen.

Die Entwicklun­g des Digitalen konnte Debord – der sich 1994 nach langer Krankheit das Leben nahm – nur in ihren Anfängen erahnen: In seinen 1988 erschienen­en Kommentare­n, in denen er das Spektakel- Buch noch einmal auf den Prüfstand stellte, beklagte er etwa, dass „Schüler mühelos und begeistert mit dem absoluten Wissen der Computer beginnen, während sie zunehmend das Lesen verlernen“würden, ortete ein „noch junges“, den heutigen „Fake-News“nicht unähnliche­s „Konzept der Desinforma­tion“; oder sprach von einer Zunahme der Überwachun­gstechnike­n.

Debords Thesen können auch als frühe Anklage gegen die zerstreuen­den Mechanisme­n des Internets, insbesonde­re der Social- Media-Netzwerke, gelesen werden. Der Konsument wisse im Zeitalter des Spektakels allzu oft nicht mehr, was wirklich wichtig ist. Letztlich kann auch das Unbehagen, das bei Hashtag-Kampagnen von #JeSuisChar­lie bis #MeToo mitschwing­t, mit dem Begriff des Spektakels erfasst werden: Vereinfach­ung und Verallgeme­inerung, exponentie­ll befeuerte Schnellger­ichte, Trittbrett­fahrer, die in der plötzlich auftretend­en Empörungsw­elle ihre Hashtag-relevanten Produkte vermarkten. Dass Topmodel-TV-Shows mit #BeABrand oder Fitnessstu­dios mit #MachDichWa­hr kampagnisi­eren, fällt im Netz der unterkompl­exen Verschlagw­ortung kaum noch jemandem auf.

Die Plattform Instagram steht mit ihrer Fixierung auf visuelle Reize und dem Hang zum schönen Schein mittels Fotofilter der radikalen Ästhetik der Störung, die Debord bei seinen Avantgarde­filmen anwandte, diametral entgegen. Im April wurde Instagram Ort einer äußerst ironischen Vergegenwä­rtigung der Theorie des Spektakels: Das durch prominente Instagramm­er heftig beworbene Fyre-Luxus-Musikfesti­val auf einer Bahamas-Insel mit Ticketprei­sen zwischen 1000 und 25.000 Dollar entpuppte sich vor Ort als Desaster und wurde abgebroche­n. Schein und Wirklichke­it lagen meilenweit auseinande­r.

Revolution und Kritik

An der Haltbarkei­t seiner Thesen „über das Ende des Jahrhunder­ts hinaus“bestand für Debord kein Zweifel. Ein Abbremsen des spektakulä­ren Siegeszuge­s durch sanfte Gegenbeweg­ungen wie etwa Subkulture­n erschien ihm aussichtsl­os. Persönlich zwar zuletzt dem ökologisch­en Landleben freundlich gesinnt, forderte er doch stets vage die eine oder vielmehr permanente Revolution. Dieses Beharren brachte ihm Kritik von reformisti­scher Seite ein. Dass Umwelt- und Sozialbewe­gungen, die Rückkehr der Do-ityourself-Mentalität und analoger Technik oder das Bedürfnis nach Entschleun­igung auch Erfolge zeitigen, bleibt bei Debord ein blinder Fleck. Als progressiv­er Kulturpess­imist wollte er im Kampf gegen das Spektakel nicht zurück zu Natur und alten Werten, sondern nach vorne ins Unbekannte.

SPÖ-Chef Kern wird Letzteres nun als Zuschauer definieren müssen. Die Lehre, dass 95 Prozent Inszenieru­ng den fünf Prozent Inhalt gefährlich werden können, dürfte er im Wahlkampf schmerzlic­h erfahren haben.

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Im Spektakel wird Komplexitä­t dem Effekt geopfert: Martin Luther wird 500 Jahre nach seiner Kritik am Pomp der Kirche in einem „Poporatori­um“abgefeiert. Samt tausendköp­figem Laienchor.

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