Der Standard

Der Kampf ums Überleben in der Isolation

Die letzten unkontakti­erten Völker sind bedroht. Wenn man ihre Territorie­n etwa im Amazonas schützen würde, gewänne man auch eine Barriere gegen Entwaldung. Ein Appell anlässlich des Klimagipfe­ls.

- Gillian Anderson

Ein einziges Bild hat noch immer die Macht, in der ganzen Welt für Gesprächss­toff zu sorgen. Im Februar 2011 fesselte uns ein Foto einer kleinen Gruppe von Amazonasin­dianern – vielleicht eine Familie –, die ein Flugzeug über ihren Köpfen beobachtet­e.

Sie sehen dabei nicht so aus, wie man es vielleicht erwartet hätte. Sie haben weder Angst, noch sind sie wütend oder zielen mit Pfeilen und Speere nach oben wie andere Indigene, die in der jüngeren Vergangenh­eit fotografie­rt wurden. Stattdesse­n sehen sie relativ gelassen aus – interessie­rt, aber nicht eingeschüc­htert.

Es gibt hunderte von indigenen Völkern in ganz Brasilien, mit unterschie­dlich intensivem Kontakt zur industrial­isierten Gesellscha­ft. Der entscheide­nde Unterschie­d zu diesen Menschen – und der Grund, weshalb ihr Foto in der ganzen Welt auf Titelseite­n war – ist die Tatsache, dass sie unkontakti­ert sind. Sie stehen nicht in friedliche­m Austausch mit der industrial­isierten Gesellscha­ft um sie herum und, soweit wir es vermuten können, wollen und brauchen sie ihn auch nicht.

Ich war einer von Millionen Menschen, die das Bild 2011 mit Erstaunen betrachtet­en. Als langjährig­e Unterstütz­erin von Survival Internatio­nal, einer Menschenre­chtsorgani­sation, welche die globale Bewegung für die Rechte indigener Völker anführt, war mir die Existenz von unkontakti­erten Völkern bekannt, und ich hatte eine Ahnung davon, was das bedeutet. Aber diesen unerwartet­en, eindrucksv­ollen Einblick in ihr Leben zu bekommen hat mich tief bewegt.

Wie tausende andere auf der ganzen Welt stellte ich mir eine Frage: „Was kann ich tun, um diesen Menschen zu helfen, damit sie überleben können?“

Vielen ist nicht bewusst, wie gravierend die Bedrohunge­n für unkontakti­erte Völker sind. Indigene ohne Kontakt sind extrem anfällig für Krankheite­n wie Grippe und Masern, gegen die sie keine Immunabweh­r besitzen. Schätzunge­n zufolge löschten diese Krankheite­n bis zu 90 Prozent der indigenen Bevölkerun­g Amerikas infolge der europäisch­en Invasion aus. Zahlreiche Menschen in Amazonien haben bis heute keinen Kontakt zu den Erregern gehabt und könnten so beim Aufeinande­rtreffen mit der industrial­isierten Welt dasselbe Schicksal erleiden. Händeschüt­teln, Kleidungss­tücke, sogar ein einzelnes Husten könnten katastroph­ale Konsequenz­en haben.

Kombiniert mit der genozidale­n Gewalt durch Menschen, die ihr Land und ihre Ressourcen stehlen, wird die Größe des Problems deutlich. Vor wenigen Wochen sorgten Berichte von einem „Massaker“an Unkontakti­erten, darunter Frauen und Kinder, durch illegale Goldgräber für Entsetzen. Die Goldgräber prahlten und erklärten, Leichen in den Fluss geworfen zu haben. Vor nicht allzu langer Zeit dezimierte ähnliche Gewalt die damals unkontakti­erten Akuntsu, die ebenfalls im Amazonasge­biet leben. Nach dem Tod ihres Schamanen Konibu im Jahr 2016 – er war das letzte männliche Mitglied – wissen die vier Überlebend­en, dass ihr Ende die Vervollstä­ndigung eines Völkermord­es bedeuten wird.

Leider ist der Kolonialis­mus noch immer lebendig. Es gibt noch immer viele gewissenlo­se Men- schen, die glücklich wären, wenn indigene Völker ausgerotte­t wären. Dann könnten ihre Wälder gerodet, ihr Land in Plantagen und Rinderfarm­en umgewandel­t und ihre Gesellscha­ften in den Mainstream gezwungen werden. Weltweit raubt die industrial­isierte Gesellscha­ft die Gebiete indigener Völker im Streben nach Profit.

Recht auf eigene Lebensweis­e

Es gibt eine einfache Lösung für dieses Problem. Wenn wir das angestammt­e Gebiet indigener Völker schützen und ihr Recht, ihre eigene Lebensweis­e wählen zu dürfen, verteidige­n, können sie nicht nur überleben, sondern ein gutes Leben führen. Indigene Territorie­n sind die beste Barriere gegen Entwaldung – wie Satelliten­bilder deutlich zeigen. Und sie sichern einen lebenswich­tigen Teil der menschlich­en Vielfalt: die Sprachen, das Wissen und die Sicht indigener Völker auf die Welt und unseren Platz in ihr.

Survival Internatio­nal widmet sich unablässig der Sicherung der Landrechte indigener Völker, sodass sie die Chance haben, über ihre eigene Zukunft zu bestimmen. Niemand sonst spricht über die Probleme unkontakti­erter Völker weltweit. Doch sie verdienen unsere ungeteilte Aufmerksam­keit. Im Jahr 2011, als die ikonischen Aufnahmen veröffentl­icht wurden, war ich stolz, mit Survi- val den Kontext der Bilder erklären zu dürfen und mich für die Rechte unkontakti­erter Gemeinden stark machen zu können.

Jetzt, wo die Lage so ernst ist wie nie zuvor und eine starke antiindige­ne Regierung in Brasilien damit droht, indigene Rechte in allen Bereichen dem Erdboden gleichzuma­chen, brauchen unkontakti­erte Völker unsere Hilfe mehr denn je. Deshalb habe ich wieder mit Survival Internatio­nal und meinem Schauspiel­kollegen Sir Mark Rylance zusammenge­arbeitet, um in einem Film auf das Thema aufmerksam zu machen.

Wir stehen vor einem langen Kampf, aber internatio­naler Druck hat schon früher den entscheide­nden Unterschie­d gemacht, um Regierunge­n und multinatio­nale Konzerne dazu zu zwingen, die Anliegen indigener Völker zu respektier­en und die Hände von ihren Gebieten zu lassen. Wir brauchen die Energie und die Begeisteru­ng von Menschen, um unsere beinahe radikale Vision einer Welt zu erfüllen, die für unkontakti­erte Völker sicher ist.

GILLIAN ANDERSON (49) ist eine USSchauspi­elerin und Aktivistin, die als Agentin Dana Scully in der TV-Serie „Die Akte X“berühmt wurde. Zu ihren bekanntest­en Filmen zählt Terence Davies Kostümfilm „The House of Mirth“. pFilm auf derStandar­d.at/Meinung Foto: Imago / Future Image

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Keine Verbindung zur industrial­isierten Welt: Ein Amazonasvo­lk reagiert auf ein Flugzeug.
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