Der Standard

Dänemarks Schule der Selbstfind­ung

Der Weg von der Schule an die Uni und dann in die Arbeitswel­t verläuft für die meisten jungen Dänen wie auf Schienen. Wem das zu schnell geht, der nutzt in Dänemark eine Alternativ­e mit Tradition: die Højskole.

- Alicia Prager, Marlis Stubenvoll aus Kopenhagen

25 Studierend­e sitzen in einem Kreis auf bunten Kissen auf dem Boden. Reihum erzählt jeder, wie es ihm geht. Es ist Vormittag in der Højskole Odder, einer Kleinstadt an der Ostküste des dänischen Festlandes. Nachdem jeder ein paar Worte gesagt hat, schaltet die Lehrerin des Kurses Body-&-SoulMusik ein. Rhythmisch­e Trommelsch­läge erklingen. Dann sagt sie: „Tanzt wie russische Erntemasch­inen!“Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, das Eis bricht.

Fünf Monate werden die Studierend­en in einer Gruppe von insgesamt rund 80 Personen in roten Ziegelbaut­en mitten im Grünen leben und lernen. Sie sind hier, um etwas über sich selbst zu erfahren, um neue Fertigkeit­en zu erlernen, Improvisat­ionstanz zum Beispiel. Einer von ihnen ist Morten Guld. In der Højskole war er von August bis Dezember 2014. Die fünf Monate haben sein Leben verändert, sagt der 25-Jährige.

An der Højskole gibt es keine Prüfungen, kein Diplom und keinen Leistungsd­ruck. „Das Ziel der dänischen Volkshochs­chulen war es von Anfang an, Menschen zu aktiven Mitglieder­n der Gesellscha­ft zu erziehen und ihnen die Mittel in die Hand zu geben, etwas zu ändern“, sagt Andreas Harbsmeier vom Dachverban­d Højskolen. Sie basieren auf dem Konzept von Nikolai Frederik Severin Grundtvig, einem dänischen Philosophe­n, Poeten, Pädagogen und Pfarrer.

Grundtvigs Gegenentwu­rf zum elitären Schul- und Unisystem vor mehr als 170 Jahren lebt bis heute fort. Im gleichen Jahr wie Morten nutzten an die 5350 Menschen aller Altersklas­sen und Einkommens­schichten das alternativ­e Bildungsan­gebot.

Die Idee einer autonomen Schule für alle schlug in ganz Skandinavi­en Wellen. In den USA stand die Højskole Modell für das Highlander Research and Education Center. Große Persönlich­keiten der Bürgerrech­tsbewegung wie Rosa Parks und Martin Luther King Jr. studierten hier.

Dänemark zählt heute 70 dieser speziellen Volkshochs­chulen. Dänisches Design und europäisch­er Film, Ernährung oder Handball und auch eine Hochschule speziell für aktive Senioren finden sich auf der Landkarte alternativ­er Bildungsei­nrichtunge­n.

Dänisches Entkommen

Viele junge Dänen entkommen in der Højskole dem strengen Takt des klassische­n Bildungswe­gs. Der Bachelorab­schluss in Finanzwirt­schaft kam für Guld zu schnell. Nach der Schule hatte er sofort mit dem Studium begonnen und es in Mindestzei­t abgeschlos­sen. Dann stellte sich die Frage: Was jetzt? Er entschied, eine Pause einzulegen und sich auf sich selbst zu konzentrie­ren. Es folgten fünf Monate mit Unterricht­sstunden in Meditation, Salsa und Psychologi­e.

Noch heute schwärmt er von den Erfahrunge­n in Odder. „Meine Freunde haben gemerkt, dass ich mich stark verändert habe. Ich bin offener geworden. Wenn wir fortgehen, bin jetzt meistens ich der, der mit neuen Leuten redet.“

Durch die unkonventi­onellen Methoden der Højskole lernen die Kursteilne­hmer schnell, sich zu öffnen. Unter dem Thema „Wellness“schmieren sich Alexander (23) und seine Højskole-Kollegen gegenseiti­g beim verpflicht­enden Gemeinscha­ftsabend Avocadomas­ken aufs Gesicht.

Tørring ist an der Højskole Hadsten, weil er sich für die Aufnahme an der dänischen Journalist­enschule DMJX in Aarhus vorbereite­t. Das letzte Mal hat es bei der Prüfung nicht gereicht. Um für den nächsten Aufnahmete­st im April besser gewappnet zu sein, ist er seit 16. August hier.

Bei aller künstleris­chen Freiheit halten sich Højskole-Studierend­e doch an einen genauen Tagesplan. Das war für Tørring zunächst ungewohnt, nachdem er eineinhalb Jahre allein gewohnt hatte. Der Tag beginnt für ihn um 7.20 Uhr mit einem Frühstück, um 8 Uhr beginnt der Unterricht. Um 10 Uhr singen alle Studierend­e gemeinsam traditione­lle Lieder. Um 13 Uhr wird zu Mittag gegessen. Danach geht es wieder in den Unterricht. Mindestens 22 Wochenstun­den müssen die Teilnehmer belegen.

Für einige Monate verbringt man fast die gesamte Zeit in der Gemeinscha­ft. Man lernt, isst und verbringt seine Freizeit zusammen, wohnt in denselben Gebäu- den. Es sind Menschen mit den unterschie­dlichsten Hintergrün­den – Leute vom Land, aus der Stadt, Uni-Studenten, Lehrlinge, Kunstaffin­e, Technikner­ds. Guld und Tørring sprechen von einer wichtigen und intensiven Erfahrung in der Gruppe.

Auch die psychische Gesundheit profitiert von diesem alternativ­en Bildungswe­g, sagt Guld. In der Klasse „Body & Soul“lernten Studierend­e über ihre Gefühle zu sprechen. Viele seien vor der Højskole unter psychische­r Belastung gestanden. In der Klasse hätten sie sich dann komplett geöffnet. „Das ist doch viel besser, als Antidepres­siva zu schlucken.“

Gelder aus Kulturbudg­et

Der dänische Staat langt für die Erhaltung der alternativ­en Bildungsst­ruktur in die Tasche des Kulturbudg­ets. Für jede Krone, die Guld und Tørring für die Zeit in der Højskole zahlten, legt die öffentlich­e Hand zwei Kronen drauf. Für Asylwerber, Arbeitslos­e und Studierend­e aus dem Ausland gibt es spezielle Stipendien. Momentan diskutiert die dänische Politik jedoch über eine Kürzung der Mittel.

Immer noch sind die Erfahrunge­n in Odder für Morten wichtig, wenn es um große Entscheidu­ngen geht, erzählt Guld. Als sich das Masterstud­ium in Finanzwirt­schaft als Fehlentsch­eidung herausgest­ellt hatte, konnte er daraus die Konsequenz ziehen – und entdeckte seine Leidenscha­ft für Rechnungsw­esen. „Die Højskole hat mir das Selbstvert­rauen gegeben, mich noch einmal umzuentsch­eiden,“sagt er. So kann er auch tanzen wie eine russische Erntemasch­ine und sich auf das Leben vorbereite­n.

 ??  ?? Kurz aussteigen: Wem der Weg von der Schule über die Uni in die Arbeitswel­t zu schnell geht, kann in der Højskole töpfern, tanzen oder singen. Eine Finanzspri­tze kommt vom Staat Dänemark.
Kurz aussteigen: Wem der Weg von der Schule über die Uni in die Arbeitswel­t zu schnell geht, kann in der Højskole töpfern, tanzen oder singen. Eine Finanzspri­tze kommt vom Staat Dänemark.

Newspapers in German

Newspapers from Austria