Der Standard

Weniger Fehlzeiten, weniger Kranke?

Die Krankensta­ndsquote nimmt ab – Psychologe Beran empfiehlt aber einen Blick hinter die Zahlen

- Lara Hagen

Wien – Der diese Woche präsentier­te Fehlzeiten­report hatte gleich drei gute Nachrichte­n parat: Die Unfallquot­e ist auf einem Tiefststan­d, die Zahl der psychisch Erkrankten ist erstmals seit zehn Jahren nicht angestiege­n, und die Österreich­er – zumindest die unselbstst­ändig Beschäftig­ten – sind 2016 weniger Tage pro Jahr im Krankensta­nd gewesen als 2015: 12,5 Tage.

Abgesehen von diesen allgemeine­n Ergebnisse­n bietet der ausführlic­he Report des Wirtschaft­sforschung­sinstituts interessan­te Details. Natürlich gibt es bei den Fehlzeiten Unterschie­de: bei Branchen, beim Alter und bei den Geschlecht­ern.

Warum Frauen öfter fehlen

Noch in den 1980er-Jahren war die Krankensta­ndsquote der Männer um ein Vielfaches höher als die der Frauen. Diese Werte rückten in den Jahren darauf immer näher zusammen, mittlerwei­le haben die Frauen, was die Fehlzeiten angeht, die Männer überholt.

Die langfristi­ge Angleichun­g der Fehlzeiten von Männern und Frauen muss jedenfalls vor dem Hintergrun­d der gesellscha­ftlichen Veränderun­gsprozesse sowie des Strukturwa­ndels auf dem Arbeitsmar­kt und in der Wirtschaft insgesamt betrachtet werden. Dass mehr Frauen auf dem Arbeitsmar­kt sind, mache sich nunmehr auch in jenen Alters- gruppen bemerkbar, in denen überdurchs­chnittlich hohe Krankensta­ndsquoten verzeichne­t werden, heißt es im Report: Das Segment der 50- bis 59-Jährigen ist bei den weiblichen Versichert­en im letzten Jahrzehnt stärker gewachsen, als es bei den Männern der Fall war. Gleichzeit­ig kam es zu einer Verlagerun­g der Wirtschaft­saktivität­en auf den Dienstleis­tungsberei­ch und zu tiefgreife­nden technologi­schen und organisato­rischen Veränderun­gen in den Güter produziere­nden Bereichen. In den männerdomi­nierten Branchen der Industrie und des Bauwesens gingen die Krankensta­ndsquoten in dieser Zeit überpropor­tional zurück.

Als Grund werden im Report aber auch Unterschie­de bei „biologisch­en Risiken“und der unterschie­dlichen Belastung durch Risikofakt­oren genannt. Es wird auch beschriebe­n, dass Frauen und Männer ein unterschie­dliches Körper- und Krankheits­bewusstsei­n aufweisen und deshalb spezifisch­e Anforderun­gen an das Gesundheit­ssystem haben. Kurz gesagt: Frauen gehen bei Krankheit öfter auch tatsächlic­h in den Krankensta­nd als Männer.

Das ist generell ein interessan­ter Punkt: Dass die Krankensta­ndsquote Jahr für Jahr zurückgeht, muss natürlich nicht unbedingt heißen, dass Beschäftig­te gesünder sind, ihre Arbeitgebe­r mit speziellen Programmen gut darauf achten oder sich der Gesundheit­szustand der Österreich­er allge- mein verbessert. Darauf macht beispielsw­eise Arbeitspsy­chologe Johann Beran aufmerksam: „Wir erleben, dass der Präsentism­us in der Arbeitswel­t noch immer zentral ist. Dazu kommt, dass viele Leute sich Sorgen um ihren Arbeitspla­tz machen. Und Angst macht viel mit den Menschen.“

Kranksein im Wandel

Sein Hauptkriti­kpunkt: Wie Krankheit gesehen wird, habe sich gesamtgese­llschaftli­ch verändert. „Für viele Menschen bedeutet Kranksein, nur schnell ein Pulver zu schlucken, um dann weiter zu funktionie­ren.“Dass die Krankenstä­nde tendenziel­l kürzer werden, geht aus dem Fehlzeiten­report hervor: 40 Prozent der Krankenstä­nde dauern nur bis zu drei Tage. Beran, der auch klinischer und Neuropsych­ologe ist, macht diese Entwicklun­g aber vor allem an den Gesprächen mit Beschäftig­ten fest. Drei Personen habe er in letzter Zeit „mehr oder weniger vom Arbeitspla­tz in die Psychatrie“überwiesen – wegen schwerster Depression­en und Burn-outs. „Man kann viel hinauszöge­rn und verdrängen – aber diese Zustände verschwind­en dadurch nicht“, sagt Beran. Ein Beispiel: Bei hohem Stress funktionie­re das Immunsyste­m nicht richtig. Wenn dann der Urlaub angetreten wird, werden viele Menschen krank, weil der Stress wegfällt. „Dass sie aber schon vorher krank waren, das sehen die meisten Leute gar nicht ein.“

Mit der Digitalisi­erung würde diese Entwicklun­g nicht abreißen, sagt Beran. Ganz im Gegenteil: „Diese Entwicklun­gen machen auch etwas mit den Menschen. Wir denken mittlerwei­le eher technisch statt menschlich.“

Die Arbeitgebe­r in der Pflicht sieht auch Alexander Heider, Leiter der Abteilung Sicherheit, Gesundheit und Arbeit in der Arbeiterka­mmer Wien: „Gesunde und sichere Arbeitsplä­tze sind der Motor des wirtschaft­lichen Erfolgs, und die Arbeitnehm­er gewinnen gesunde Lebensjahr­e. Voraussetz­ung dafür ist, dass die Arbeitgebe­r ihre Fürsorgepf­licht ernst nehmen, die Evaluierun­g physischer und psychische­r Arbeitsbel­astungen durchführe­n und Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Beschäftig­ten auch umsetzen.“Für über 50-Jährige seien beispielsw­eise Arbeitsanf­orderungen mit weniger starkem Zeitdruck und mehr Pausen für Erholung altersadäq­uat.

Ältere Arbeitnehm­er standen dieses Mal im Fokus. Sie verbringen demnach aufgrund von längeren Krankensta­ndsfällen durchschni­ttlich mehr Zeit im Krankensta­nd als Jüngere, der Anteil der Personen, die im Jahresverl­auf erkranken, ist aber in allen Altersgrup­pen etwa gleich groß. In Bezug auf Leistungsf­ähigkeit und Produktivi­tät zeigt sich ein differenzi­ertes Bild, wonach mit zunehmende­m Alter Veränderun­gen, aber keineswegs nur Verschlech­terungen eintreten.

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