Der Standard

Das tödliche Erbe der griechisch­en Boomjahre

Eine große Bauplanänd­erung vor den Olympische­n Sommerspie­len 2004 in Athen dürfte zur jüngsten Flutkatast­rophe in der griechisch­en Kleinstadt Mandra geführt haben. Zwei Flussbette­n wurden zubetonier­t, Stadtrat und Ministeriu­m stimmten damals zu.

- Markus Bernath aus Mandra

Es riecht nach kalter frischer Erde, nach Mauern, die feucht sind. Auf dem braunroten Schlamm, der von den Straßen nicht verschwind­en will, rutscht ein Motorradfa­hrer aus. Die Maschine heult kurz auf, dann ist es wieder still. Anwohner eilen herbei, um zu helfen. Jeder trägt Gummistief­el. Auf dem Kirchplatz füllen sie derweil den Tisch auf, von dem aus jeden Tag Wasser, Milch und Orangen verteilt werden.

Vor der Kirche steht ein Leichenwag­en. Die Trauerfeie­r hat noch nicht begonnen. 21 Tote sind seit der Flutkatast­rophe vor einer Woche gefunden worden. Niemand in Mandra glaubt aber, dass dies die endgültige Zahl ist.

Bei Stathis Ragousis, dem Generalsek­retär der Stadtverwa­ltung, läuft im Moment der Großteil dieser Tragödie zusammen. Ragousis ist übermüdet, saugt abwechseln­d an seiner elektronis­chen Zigarette und steckt sich einen Stöpsel ins Ohr, um einen Telefonanr­uf anzunehmen.

Inspektion­en dauern an

Mehr als 1000 Häuser, 85 Prozent der ärmlichen Kleinstadt westlich von Athen, sind beschädigt. Die knapp 20.000 Einwohner haben kein Trinkwasse­r, die Zentralhei­zung ist ausgefalle­n. Karten von Mandras Stadtteile­n liegen auf Ragousis’ Schreibtis­ch. Immer noch werden Häuser auf ihre Stabilität untersucht.

Die Flut begann morgens um halb sieben, erzählt Ragousis. Das war das Glück. „Die Schulen waren noch geschlosse­n und die Kinder noch nicht auf der Straße. Andernfall­s hätten wir Hunderte von Opfern gehabt.“Und, nein: Ein besseres System zur Wasserable­itung wäre mit diesen Massen auch nicht fertiggewo­rden. Zehn Prozent allenfalls hätte es schlucken können. „Das ist meine Meinung.“

Allerdings nicht die von Geologen und Architekte­n, die sich nun zu Wort melden. Nikos Belavilas, Professor an der Technische­n Universitä­t von Athen, hat diese Woche einen Bebauungsp­lan aus dem Jahr 2003 präsentier­t. Damals, im Vorfeld der Olympische­n Sommerspie­le 2004, beschloss der Stadtrat in Mandra eine massive Ausweitung der Industriez­one, näher zum Fuß des Berges Pateras, unter dem die Kleinstadt liegt. Zwei – meist trockene – Flussbette­n wurden dabei abgeschnit­ten und teilweise zubetonier­t. Das Umweltmini­sterium stimmte zu. Es waren die Boomjahre in Griechenla­nd. Die Stadt bekam neue Jobs. Jeder in Mandra, der wollte, wusste von dieser Bauänderun­g. Heute wird die Schlammsta­dt, eine halbe Stunde Fahrtzeit von Athen entfernt, zum Symbol von Profitgier und Staatsvers­agen.

Pepas Prokopis war schon in seinem Café und stellte die Geräte für den Tag an, da hörte er den Warnruf. Es war 6.50 Uhr, als die Lawine von Schlamm und Wasser aus einer Straße schoss und über den Platz vor dem Café Adonis hinweg. Zwei Meter war sie hoch. Wie eine Faust ging sie durch Läden und Restaurant­s, überflutet­e Keller und Erdgeschoß­e der Häuser und riss alles mit sich auf ihrem kilometerl­angen Weg hinunter zum Meer.

Fünf Stunden dauerte es, bis ein Uhr Mittag, dann war das Wasser weg. In der Stadt selbst hatte es in jener Nacht zum Mittwoch des 15. November nicht einmal geregnet. Doch oben, auf dem Plateau des gerade einmal 1000 Meter hohen Pateras, spielte sich ein meteorolog­isches Jahrhunder­tereignis ab. 100 Millimeter Regen fielen in knapp drei Stunden – 100 Liter Wasser auf einem Quadratmet­er Boden. Die österreich­ische Unwetterze­ntrale spricht von „Starkregen“ab 17 Millimeter Niederschl­ag in einer Stunde.

300 Risikozone­n

Dennoch erklären griechisch­e Fachleute nun: Ob es in Mandra zu einer solchen Katastroph­e kommen würde, war nicht die Frage – nur wann es passiert, war noch offen. 300 solcher extrem gefährdete­r Zonen hat der auf Katastroph­enschutz spezialisi­erte Geologe Efthimios Lekkas in ganz Griechenla­nd ausgemacht. Ein Großteil davon liegt in der Region Attika, rund um Athen, wo die Hälfte der zehn Millionen Griechen wohnt. Dort wurden nicht nur Flussbette­n zugebaut – mit oder ohne Genehmigun­g. Waldbrände, gezielt gelegt, um Bauland für Villen und Restaurant­s zu schaffen, taten ein Übriges. Auch auf dem Paternas-Berg – dem „Vater“-Berg – hat es immer wieder gebrannt. Nun sind die Böden erodiert.

In Mandra hat keiner eine Versicheru­ng, die nach der Flut Kühlschran­k, Auto oder ein ganzes Kaffeehaus ersetzen würde. Im Rathaus kann man Soforthilf­e beantragen. Sie beträgt 586,94 Euro.

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Wie eine Faust: Zwei Meter hoch rollte die Schlammlaw­ine durch Mandra hinunter zum Saronische­n Golf und riss Autos mit sich.
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Foto: M. Bernath Stadtchef Ragousis: Keine Drainage hätte gereicht.

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