Der Standard

Leid im zweiten Durchgang

- Ronald Pohl

Zu den erbaulichs­ten Erinnerung­en an ein erfülltes Leben als TV-Konsument gehören die Skiübertra­gungen des ORF. Jedes Rennen dauerte in den 1970ern gefühlt mindestens länger als eine Richard-Wagner-Oper. Franz Klammers Husarenrit­t über den Patscherko­fel 1976 hielt eine ganze Nation in Atem. Es schien, als ob unser kleines Land die internatio­nalen Weltcup-Pisten mit Heerschare­n von verwegenen Draufgänge­rn flutete. Wenn die Läufer danach noch Luft bekamen, mussten sie sich von Robert Seeger im Norwegerpu­lli (nur echt mit handgestri­ckten Hirschen!) interviewe­n lassen. Man dachte, damit hätte sich das Arbeitslei­d einer solchen Ski-Kanone im Großen und Ganzen auch erschöpft.

Nach dem couragiert­en Auftritt von Ex-Skisportle­rin Nicola Werdenigg, geborene Spieß, zuerst im STANDARD und am Mittwochab­end in der ZiB 2, muss man die eigenen Erinnerung­en einer umso gründliche­ren Revision unterziehe­n. Das Draufgänge­rtum wurde vor allem von jungen Skisportle­rinnen mit schwer vorstellba­rem Leid erkauft. Werdeniggs Aufdeckung von sexueller Gewalt gegenüber den Schutzbefo­hlenen des ÖSV entbehrte jedes spekulativ­en Elements. Man sah eine sympathisc­he Frau, die um Wahrung ihrer Fassung bemüht war. Die noch einmal in Erinnerung gerufen bekam, dass man vor 40 Jahren als aufstreben­des Jungtalent des Skiverband­s die Genitalien mit Schuhpaste eingeriebe­n bekam. Blieb es dabei, konnte man wohl noch von Glück reden.

Der amtierende ÖSV-Präsident gab kund, in früheren Zeiten sei man in Internaten halt anders behandelt worden. Ja, gut war sie, die alte Zeit. Und man erinnert sich deutlich eines Damenslalo­ms vor zehn Jahren, als ein ÖSV-Betreuer seiner potenziell­en Siegläufer­in im Starthäusc­hen beherzt ( und scheinbar unbemerkt) auf den Hintern hieb und sinngemäß – vor laufender Kamera – meinte, sie solle sich nicht einkoten. Das stählt gewiss die Nerven. Man weiß ja jetzt: Nur die Härtesten kamen durch. pderStanda­rd. at/TV-Tagebuch

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