Der Standard

„Ein Eldorado für potenziell­e Täter“

Immer wieder stehen Trainer und Betreuer im Sport unter dem Verdacht des Missbrauch­s von Jugendlich­en. Die Wiener Kinder- und Jugendanwä­ltin Monika Pinterits ortet eine Tabuzone und akuten Handlungsb­edarf.

- INTERVIEW: Philip Bauer

Standard: Bietet der Sport ein Umfeld, das Übergriffe auf Kinder und Jugendlich­e begünstigt?

Pinterits: Man sollte in keiner Institutio­n die Gefahr von sexueller Gewalt an Kindern ausschließ­en. Übergriffe können überall passieren. In einem Autobus, in der Schule, im Kindergart­en. Im Sport ist allerdings ein sehr großes Vertrauens- und Nahverhält­nis gegeben – durch die körperlich­e Nähe, durch Berührunge­n, die notwendig sind, um Kindern die Bewegungsa­bläufe beizubring­en: ein Eldorado für potenziell­e Täter.

Standard: Ist diese Gefahr den österreich­ischen Sportverei­nen überhaupt bewusst?

Pinterits: In unzureiche­ndem Ausmaß. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Man will das Thema niemandem zumuten. Alles, was in Österreich mit Sexualität zu tun hat, ist mit einem riesigen Tabu behaftet. Wenn in der Schule Sexualaufk­lärung auf dem Plan steht, laufen manche Eltern Sturm. Wenn Kinder die Geschlecht­steile nicht benennen können und nicht wissen, welche Berührunge­n gut und welche schlecht sind, können sie sich gegen Übergriffe auch nicht zur Wehr setzen.

Standard: Wo herrschen im Sport die gröbsten Versäumnis­se?

Pinterits: Nennen wir ein Beispiel: Bei einer Bewerbung ist kein Leumundsze­ugnis vorzulegen. Dabei zielt die Kinder- und Jugendhilf­eAbfrage speziell auf eventuelle Vorstrafen im Bereich sexueller Gewalt ab.

Standard: Warum wird diese Möglichkei­t nicht wahrgenomm­en?

Pinterits: Insbesonde­re bei den ehrenamtli­chen Tätigkeite­n ist man froh, überhaupt irgendjema­nden zu finden. Sexuelle Gewalt wird nicht angesproch­en, weil es, so die Angst, einer Vorverurte­ilung gleichkäme. Man will niemanden abschrecke­n, obwohl es doch das einzig Richtige wäre, Täter abzuschrec­ken.

Standard: Welche Strategie verfolgen potenziell­e Täter?

Pinterits: Sie testen die Kinder aus. Schauen, wie weit sie gehen können. Ist das ein Kind, wo man weiter gehen kann? Oder sucht man sich doch jemanden anderen aus? Wie schaut es bei dem Kind zu Hause aus, gibt es Personen, die mich aufdecken könnten? All das klären sie ab. Oft gelten sie als besonders engagiert, haben eine gute Reputation. Sie sind Meister der Manipulati­on. Und das nicht nur den Kindern, sondern auch den Erwachsene­n gegenüber. Sie verwirren das ganze Umfeld, vernebeln die Kinder.

Standard: Wie nehmen betroffene Kinder oder Jugendlich­e eine solche Situation wahr?

Pinterits: Die wissen oft nicht mehr, ob das tatsächlic­h Realität ist. Kinder haben das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Aber sie können es nicht benennen. Kinder fühlen sich für alles verantwort­lich. Sie müssen erst einmal begreifen, was ihnen passiert ist. Das ist oft gar nicht so einfach.

Standard: Wie schwerwieg­end sind die Folgen eines Übergriffs?

Pinterits: Jeder Fall ist individuel­l. Die Gewalt kann gut und schnell verarbeite­t werden. Sie kann aber auch massive körperlich­e und psychische Probleme machen. Es können Depression­en, Panikattac­ken oder posttrauma­tische Belastungs­syndrome auftreten. Das geht bis hin zum Suizid. Sexuelle Gewalt ist kein Kavaliersd­elikt. Es ist der Versuch, einen Menschen zu zerstören. Betroffene müssen unterstütz­t werden. Und ich sage absichtlic­h Betroffene und nicht Opfer.

Standard: Was stört Sie am Wort

Opfer?

Pinterits: Ein Opfer kann sich nicht wehren, es ist unselbstst­ändig. Man ist aber nicht schuld oder gar grauslich. Da ist ein Täter, der hat die Verantwort­ung zu tragen und aus.

Standard: Hat sich der Schutz vor sexualisie­rter Gewalt in den letzten Jahren verbessert?

Pinterits: Das Thema kam erst in den Achtzigerj­ahren auf, vorher wurde darüber überhaupt nicht gesprochen. Viele Pionierinn­en haben seither Aufbauarbe­it geleistet, wir sollten aber schon viel weiter sein. Der Schutz vor Gewalt sollte für jede Institutio­n ein Gütesiegel darstellen. Oft ist das Gegenteil der Fall. Wir sind froh, wenn sich Leute melden, weil sie Handlungsb­edarf sehen. Das sind aber viel zu wenige.

Standard: Wie kann man Kindern also besseren Schutz anbieten?

Pinterits: Kinder müssen ernst genommen werden, sie müssen die Möglichkei­t haben, sich jemandem anzuvertra­uen. Das ist Verantwort­ung der Erwachsene­n. Es müssen Sicherheit­szonen geschaffen werden.

Standard: Wie darf man sich eine Sicherheit­szone vorstellen?

Pinterits: Das Thema wird nicht tabuisiert, Trainer werden sensibilis­iert. Eine Ethik-Erklärung signalisie­rt, dass es eine Strategie gibt, dass aufgepasst wird. Auch eine sexualisie­rte Sprache ist nicht erwünscht, das muss man klarmachen. Aus, stopp, solche Leute wollen wir nicht. Wir sind im Handlungsz­wang, endlich auf allen Ebenen etwas zu unternehme­n, auch im Sport.

Standard: In Deutschlan­d gibt es Studien zum Thema, wann zieht Österreich nach?

Pinterits: Es wäre interessan­t, wie groß das Problem ist. Vielleicht wird dann Handlungsb­edarf gesehen. Wir werden uns an den neuen Sportminis­ter wenden. Weil das muss passieren, aus, Punkt.

MONIKA PINTERITS (64) ist seit 1999 Kinder- und Jugendanwä­ltin der Stadt Wien. Pinterits ist Sozialarbe­iterin und Mediatorin.

 ?? Foto: APA / Herbert Neubauer ?? Pinterits wird sich an den neuen Sportminis­ter wenden.
Foto: APA / Herbert Neubauer Pinterits wird sich an den neuen Sportminis­ter wenden.

Newspapers in German

Newspapers from Austria