Der Standard

Blut. Haut. Metall.

- Von Julya Rabinowich

Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden vor sich eine Bauchdecke sehen. Sie hebt und senkt sich. Die Oberfläche des Bauches ist durchstoße­n von einem Schraubenz­ieher. Vielleicht ist da etwas Blut, Hautpartik­el. Blut. Haut. Metall. Die Wunde ist feucht. Die Hautoberfl­äche bewegt sich, derjenige, der das Werkzeug in sich trägt, atmet noch.

Ihr natürliche­r Impuls ist vermutlich zu helfen. Vermutlich aber auch ein kräftiger Schuss Ekel und Angst. Vielleicht ein Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigk­eit. Vielleicht auch der noch stärkere Impuls wegzulaufe­n.

Sie dürfen aber nicht weglaufen. Sie müssen bleiben, das längliche Metallstüc­k vor sich, dessen Ende im Bauch ihres Gegenübers verschwind­et. Sie sind nicht imstande, die Augen abzuwenden. Sie sehen: Blut. Haut. Metall. Die Zeit dehnt sich. Und dann werden Sie aufgeforde­rt, den Schraubenz­ieher aus diesem lebenden Menschen herauszuzi­ehen. Jetzt. Sofort! Sie sind schockiert, aber Ihre Weigerung wird mit Beschimpfu­ngen quittiert, die Sie an sich selbst noch mehr zweifeln lassen, als Sie es bis zu diesem Augenblick schon getan haben.

Und jetzt stellen Sie sich vor, der durchbohrt­e Bauch gehörte Ihrem Vater, der sich das Werkzeug hineingera­mmt hat. Und dann ist er zu Ihnen gekommen. Zum Rausziehen. Und stellen Sie sich dazu noch vor, Sie sind gerade 18 Jahre alt.

Aber nein. Das, was da passiert, ist keine Straftat. Das, was da vorgefalle­n sei, sei eben nicht intensiv genug für eine Strafbarke­it gewesen, befand der für den Fall zuständige Richter. Das Aussehen der Betroffene­n beschäftig­te ihn offenbar weit mehr als diese Szene.

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