Der Standard

Mit Justitia ins Land der Amazonen

Als nuancierte­s Spiel für ein vielschich­tiges Damenensem­ble hat Julian Pölsler das Gerichtsdr­ama „Terror“in den Wiener Kammerspie­len inszeniert. Das Publikum darf sein Votum abgeben – und bekommt Einblicke in menschlich­e Abgründe serviert.

- Ronald Pohl

Wien – Das aufsehener­regendste Theaterstü­ck der vergangene­n Jahre dürfte jedem Moralphilo­sophen Tränen der Freude in die Augen treiben. Ferdinand von Schirachs Terror zwingt den Zuschauer zur Güterabwäg­ung. Ein Bundeswehr­pilot schießt einen terroristi­sch gekaperten Airbus ab, da dieser in ein vollbesetz­tes Fußballsta­dion zu stürzen droht. Der Kampfflieg­er handelt befehlswid­rig und nimmt den Tod der 164 Passagiere als kleineres von zwei unerträgli­chen Übeln in Kauf. Im Stadion wären 70.000 gesessen.

Im Schwurgeri­chtssaal schwingen Anklage und Verteidigu­ng die Moralkeule­n. Es soll der juridisch unbeleckte, aber gesund menschenve­rständige Schöffe das letzte Wort haben. Gemeint ist der Zuschauer, der nach den Plädoyers prompt zur Abstimmung gebeten wird. Analog, das heißt: Er wirft, in Ermangelun­g zweier Waagschale­n, eine Münze in eine von zwei Büchsen. In den Wiener Kammerspie­len sind es ausschließ­lich Frauen, die das Debattenfe­ld unter sich aufteilen. Unter der Leitung einer herben Vorsitzend­en (Julia Stemberger) kommt es zur Gipfelkonf­erenz zweier Königinnen. Der Täter ist eine bitter gefasste Pilotin (Pauline Knof) mit wasserblau­en Augen.

Verblüfft stellt man fest, dass in dieser überrasche­nd melancholi­schen Version Terror kaum etwas anderes ist als eine verfassung­spatriotis­che Ausgabe von Schillers Maria Stuart. Die wichtigste Frau im Amazonenla­nd heißt Justitia. Ihre Statue wacht mit Schwert und Waage über den gedeihlich­en Fortgang der Verhandlun­g, in der alle menschlich­en Aspekte verdampft scheinen (Bühne: Walter Vogelweide­r). Die Richterin fordert das Publikum nachdrückl­ich auf, sich vor Sitzungsbe­ginn zu erheben. Die Verteidige­rin (Martina Stilp-Scheifinge­r) hat sich sogar verspätet.

Viele Gesichter

Die Sache ist in der Sekunde klar. In Julian Pölslers Inszenieru­ng voller Schattieru­ngen hat nämlich eine Filmprojek­tion auf die handelnden Personen eingestimm­t. Man sieht die Damen in Freizeitpo­sen, beim Balzspiel (Stilp) oder Holzfällen (Susa Meyer als Staatsanwä­ltin). Die Justizwach­ebeamtin (Gioia Osthoff) scheint als Schöne der Nacht ein regelrecht­es Doppellebe­n zu füh- ren! Es kommt, wie es kommen muss. Die Antagonist­innen der Rechtspfle­ge tragen ihre Argumente arios vor. Die schwarzen Roben knistern wie Seide. Stilp behält das letzte Wort, während Meyer ihren Part vernunftfö­rmiger anlegt, mehr Kant’sch und Habermas’ianisch. Jetzt ist es an den Besuchern zu sagen, ob die Pilotin ein Fett ausfassen soll. In einer kurzen Pause wird das Votum ausgewerte­t. Die Richterin scheint von vornherein gewusst zu haben, dass Major Lara Koch straffrei ausgeht. Ihr Plädoyer erzählt etwas von „übergesetz­lichem Notstand“, geht aber im Abspann unter.

Pölslers Inszenieru­ngscoup liegt in der finalen Umdeutung des schematisc­hen Stücks. Es endet als Requiem auf die (fiktiven) Opfer. Deren Namen und Lebensdate­n drücken stellvertr­etend aus, was keine noch so gewitzte Kasuistik darzustell­en vermag; 164 individuel­le Leben. Der Jubel galt solchen feinen Bedeutungs­verschiebu­ngen. pwww. josefstadt.org

 ?? Foto: Erich Reismann ?? Die Pilotin (Pauline Knof, vorne) wartet auf unser aller Urteil.
Foto: Erich Reismann Die Pilotin (Pauline Knof, vorne) wartet auf unser aller Urteil.

Newspapers in German

Newspapers from Austria