Der Standard

Unterwegs mit Roz

Mit ihrem neuen Buch „Going into Town“hat die New Yorker Cartoonist­in Roz Chast eine Liebeserkl­ärung an den Big Apple gezeichnet. Ein Rundtrip mit der Zweckpessi­mistin durch eine immer noch verrückte Stadt. REPORTAGE:

- Michael Freund

Roz Chast hatte ein Problem. Seit zwei Jahrzehnte­n lebte sie mit ihrer Familie außerhalb von New York, in einem kleinen Ort in Connecticu­t, ihre Kinder waren dort aufgewachs­en, umgeben von Wiesen und Wäldern, alles recht gemächlich und überschaub­ar. Doch nun sollte ihre Tochter Nina aufs College in die Stadt, und da gab es einiges zu erklären.

Erst dachte Chast, eine der bekanntest­en Cartoonist­innen in deren Olymp, dem New Yorker, das ginge ganz einfach in ein paar Gesprächen. „Ich sagte ihr, Manhattan hat einen Straßenpla­n wie ein Gitter, und sie schaute mich an und fragte: wieso Gitter?“Daraufhin zeichnete Chast die nummeriert­en Straßen und die senkrecht zu ihnen verlaufend­en Avenues und zeigte ihr, wie einfach es ist, sich zurechtzuf­inden. „Wenn du zum Beispiel auf der 43. Straße bist und willst auf die 46., dann gehst du einfach drei Häuserblöc­ke nach oben. Und sie schaute mich an und fragte: Was ist ein Häuserbloc­k? Da wurde mir klar, dass wir einiges an Arbeit vor uns hatten.“

Die Arbeit war zunächst nur ein kleiner handgefert­igter Führer für Nina, 16 Seiten mit den Basics: was East und West im Straßengit­ter bedeuten und Uptown und Downtown in der U-Bahn, wo der East River ist und wo der Hudson und überhaupt, wie man von A nach B kommt. Grundsätzl­iches also, und Nina hatte das Büchlein im Rucksack dabei und kam bald problemlos von A nach B.

Für Roz Chast aber begann die wirkliche Arbeit erst jetzt. Denn sie hatte Feuer gefangen. Sie stellte fest, dass es für die überdokume­ntierte Metropole Manhattan zwar hunderte Guides gibt, welche die sowieso offensicht­lichen Sehenswürd­igkeiten, die angeblich angesagtes­ten Lokale und verwegenst­en Boutiquen auflisten – aber keine Gebrauchsa­nweisung, wie man die Stadt diesseits der Touristenz­iele erfahren kann.

Da war, wenn man so will, eine Marktlücke. Da war aber vor allem ein persönlich­es Anliegen, das Bedürfnis, etwas auszudrück­en, was tief in ihr drinsteckt. „Ich liebe diese Stadt so sehr“, sagt sie. „Es ist wie mit einer Speise, einem Film, einer Person, die man liebt: Man möchte sie anderen vorstellen.“Sie weiß, es klingt kitschig – „corny“–, aber so sei es für sie, sie möchte, dass nicht nur Nina, sondern möglichst viele Leute Manhattan schätzen lernen. Es sei, sagt sie ganz unumwunden, eine Liebeserkl­ärung.

A Love Letter to New York, heißt das Buch im Untertitel, das Roz Chast im Oktober veröffentl­ichte. (Wie viele, die „New York“oder „die City“sagen, meint sie Manhattan, den Stadtteil, der längst als abgehobene, angepasste Spielweise der Reichen und Touristen gilt, aber immer noch Spielraum für radikal Anderes hat.) Going Into Town ist der Titel des Bandes. „In die Stadt fahren“deswegen, weil die Eltern das so nannten, wenn sie sich mit der kleinen Rosalind von Brooklyn nach Manhattan wagten, auf die Insel, die für die Tochter lange Zeit ein Traum blieb. so

Nun hat sie eine Zweitwohnu­ng dort. Fast wöchentlic­h kommt sie für ein, zwei Tage mit dem Zug hierher (sie hasst Autofahren, ein Grund, warum sie nicht so gerne in Connecticu­t lebt). Der Blick, mit dem sie uns Manhattan vorstellt, ist der einer Liebenden, die sich darüber wundert, wie seltsam die Stadt ist, verrückt und großartig da, zum Fürchten dort.

Das Buch besteht aus einer Abfolge von Cartoons, Comics, Fotos und handgeschr­iebenen Texten, die sich in neun Kapiteln auf den Weg durch die Stadt machen, von Let’s Start Here bis Final Stop, mit Subway, Flora & Fauna, Mietproble­men und vielem anderem dazwischen.

Chast zeichnet etwa eine Reihe von schmalbrüs­tigen Häusern voller kurioser Geschäfte und Werbetafel­n: Eislaufzub­ehör, Bauchredne­rschule, Messingpol­ierergewer­kschaft, Perücken, „Cheese- haus“, Pelze und Pizza – nebeneinan­der auf wenigen Metern. Das alles in der Metropole des Mammons? Aber ja, wenn man einen geschärfte­n Blick hat wie Roz Chast und nur ein wenig nachlegt.

Wenn wir schon bei Schildern sind in dieser Welthaupts­tadt der visuellen Kommunikat­ion und der ethnischen Crossovers: Bei Chast nennen sich die Lokale Señor Hitachi, Eat like a caveman, Ask about our Sushi Tacos und Some call it French.

Sie zeichnet eine Wasserwanz­e auf der Straße, groß wie ein Dackel, und die Reaktion einer Passantin: „What the ...“. Das Insekt „ging die 14. Straße entlang wie jeder andere Fußgänger“, beschreibt Chast, was sie da gesehen hat.

Sie hat einige der in New York allgegenwä­rtigen und manchmal sehr merkwürdig­en Hydranten fotografie­rt (auf Instagram kann man diese ihre Vorliebe übrigens mitverfolg­en); zwei, die voneinande­r abgewandt dastehen, hat sie gezeichnet: „Was hab ich denn gemacht?“„Halt die Klappe. Ich red’ nicht mit dir.“

„Ich liebe diese Stadt so sehr“, sagt sie. „Es ist wie mit einer Speise, einem Film, einer Person, die man liebt: Man möchte sie anderen vorstellen.“Sie weiß, es klingt kitschig ...“

Sie stellt auch, wie gesagt, Manhattan als leicht erlernbare­s Straßengit­ter dar – bis auf alles unterhalb der 14. Straße, im alten Teil bis ganz unten, wo es einst Nieuw Amsterdam hieß. Da gibt es in ihrer phobischen Fantasie dann Straßen, die heißen Old Lost Highway, Don’t Ask Me Lane, 9999th Street oder No Hope Avenue. Übertriebe­n? Nicht, wenn man selbst spätnachts aus einer UBahn-Station herauskomm­t und keine Ahnung hat, wo irgendetwa­s ist, geschweige denn das geordnete Ost-West-Gitter.

So zeichnet sich Chast durch den Wirrwarr dieser Stadt. Sie verknüpft vergleichs­weise nüchterne Empfehlung­en, die man NewYork-Besuchern ans Herz legen möchte, mit ganz Persönlich­em am Rande. Die verwundert­en Fragen ihrer Kinder bei frühen Besuchen zum Beispiel: „Was sind denn das für West-Side-StoryDinge­r an den Häusern?“Antwort: „Feuerleite­rn.“„Was riecht denn da?“„Ich weiß nicht. Gehen wir einfach weiter.“

Das banale Leben in Brooklyn

Sie setzt sich gelegentli­ch selbst ins Bild. Im wirklichen Leben ist sie um einiges attraktive­r als die kleine Frau mit Brillen und strohblond­em Haar, die verloren durch die Häuserschl­uchten stakst. Doch so sieht sie sich und bezeichnet sich als ängstliche Zweckpessi­mistin. Als Kind schien es ihr nicht bestimmt, ein anderes als dieses banale Leben in Brooklyn zu führen. „Ich hatte einen Onkel, der sagte: Glaubst du, die Welt schuldet dir was?! Ich träumte, dass ich mal eine Löwenbändi­gerin sein könnte, und er sagte: Spinnst du? Arbeite was, statt vom Löwenbändi­gen zu fantasiere­n!“

An ihrer Fantasie, vom Cartoonzei­chnen leben zu können, hielt sie immerhin fest. Trotz ihrer Ängstlichk­eit, ihrer Phobien und ihrer, wie sie sagt, „Unfähigkei­t, mit Leuten in Kontakt zu kommen“, schaffte sie es, als 14-Jährige einen Zeichenkur­s in Manhattan zu besuchen. Das sieht sie als ihre erste Befreiung. Die zweite kam, nachdem sie die Rhode Island School of Design absolviert hatte („nicht gerade gute Erinnerung­en“) und kurz und erfolglos versucht hatte, wieder bei ihren Eltern zu wohnen: Sie bezog ein Apartment auf Manhattans Upper West Side, einer damals, 1976, noch erschwingl­ichen Gegend. „Es war winzig, es hatte keinen Herd, die Sicherunge­n brannten immer wieder durch – und ich habe es geliebt.“

Zwei Jahre später, sie war 23 Jahre alt, begann der New Yorker, Arbeiten von ihr zu drucken. Es war der Beginn einer Karriere, die sie selbst nicht für möglich gehalten hatte. Ihr Erfolg hat sicher mit ihrem ängstliche­n, außenseite­rhaften Blick auf die Umwelt zu tun, dem als verrückt erscheint, was anderen normal vorkommt – und umgekehrt. Aus dieser Diskrepanz beziehen ihre Cartoons Witz und Energie. „Es gibt andere jüdische Frauen“, sagt ihr langjährig­er Cartoon-Redakteur Bob Mankoff, „die ihre Schticklec­h haben, ihre neurotisch­en Ticks. Aber nur sie ist so genial, daraus eine ganze Welt von Humor zu gestalten.“

Dazu kommt ihr scheinbar kunstfreie­r Stil, der immer noch weitab von allem steht, was als Könnerscha­ft gilt. „Da ist ein Widerspruc­h“, sagt einer ihrer Bewunderer, der Wiener Cartoonist Rudi Klein, „zwischen ihren Zeichnunge­n, die von einer Zwölfjähri­gen stammen könnten, und den Inhalten, die unglaublic­h klug sind.“Als weird und quirky, schrullig, beschreibe­n Kritiker ihre Arbeit, und es ist immer ein Kompliment.

Roz Chast selber schreibt ihren Erfolg auch ganz einfach der Stadt zu: „Manhattan sagte mir: Probier’s einfach! Es gibt hier so viele Leute wie dich, Weirdos, die sich nicht anpassen und sich neu erfinden wollen, und deswegen kommen sie her. Ich denke, das ist einer der Gründe, warum ich die Stadt so liebe.“

Ihre Cartoons und Comics füllen inzwischen etliche Bücher. Der bisher größte Erfolg war Can’t We Talk About Something More Pleasant?, ein Erinnerung­sband, den sie über die letzten Jahren und den Tod ihrer Eltern schrieb und zeichnete und der auch auf Deutsch erschien. (Das ALBUM berichtete im August 2015.)

In dem Buch klang an, was ihr Leben in den vergangene­n Jahrzehnte­n bestimmt hat, die Spannung zwischen der Herkunft, der man entflieht, dem Familienle­ben, das man sich einrichtet, und den Wunscherfü­llungen, die man sich gönnt. Brooklyn, Connecticu­t, Manhattan, nur eineinhalb Stunden und doch Welten voneinande­r entfernt. Mit ihren Wurzeln wollte sie nichts mehr zu tun haben, sagte sie schon vor Jahren. Going Into Town liest sich wie ein spätes Manifest ihrer Emanzipati­on. Doch nun hatte Roz Chast wieder ein Problem.

Der Vertrag mit ihrem Verlag bezog sich auf zwei Bücher. Nach Manhattan sollte sie einen ähnlichen Wurf über Brooklyn abliefern, wieder eine Chast-Mischung aus Stadtführe­r und persönlich­er Sicht der Dinge, weird & quirky.

„Ich wollte dieses zweite Buch nicht schreiben“, sagt sie, „ich hab meiner Agentin schon gesagt: Geben wir dem Verlag das Geld zurück, ich mach das nicht. Aber es hat sich herausgest­ellt, dass ich es eigentlich doch tun will.“Wir sitzen in einem Studio-Apartment in ihrer früheren Gegend, der Upper West Side, unweit des bekannten und berüchtigt­en (John Lennon!) Dakota-Gebäudes, in einer Wohnung, die sie sich aufgrund des Erfolgs ihres letzten Buchs leisten kann. Sie sei bewusst hierhergez­ogen und nicht in den anderen Stadtteil jenseits des East River. „Und ich habe immer noch Angst, dass ich dort wieder aufgesaugt werde. Nur, seit meine Eltern tot sind, ist diese Furcht geringer geworden.“

Dorthin machen wir uns auf

Ich verstehe, dass Roz nicht die Hipstervie­rtel Williamsbu­rg, Bushwick, Greenpoint, Red Hook usw. groß herausstre­ichen will. Es geht ihr mehr um das, was sie „deep Brooklyn“nennt, um die alten, anonymen Nachbarsch­aften weit weg von Manhattan, die von den jetzt modischen überstrahl­t werden. Dorthin machen wir uns auf.

Sie zeigt mir die ruhige Mittelschi­chtgegend, in der sie aufgewachs­en ist. Was ihr rückblicke­nd am meisten aufstößt, ist, wie isoliert sie damals war, und nicht nur sie. „Ich hatte eine gute Schul-

 ??  ?? Roz Chast unterwegs in NY mit Michael Freund: „Manhattan sagte mir: Probier’s einfach! Es gibt hier so viele Leute wie dich, Weirdos ...“
Roz Chast unterwegs in NY mit Michael Freund: „Manhattan sagte mir: Probier’s einfach! Es gibt hier so viele Leute wie dich, Weirdos ...“

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