„Küssen will ich, ich will küssen“
Der Schweizer Peter von Matt über glückliche, unglückliche, groteske und sinnsuchende Küsse.
Die Klage ist immergrün und wird aktuell wieder in Zeitungsfeuilletons disputiert: Die Hochschulgermanistik, die Lehre von Deutung und Ausdeutung der Literatur, sei taub und stumm. Taub, weil sie Philologen hervorbringe, die für Klang und Schönheit der Poesie unerreichbar seien, und stumm, weil sie in einem unverständlichen Jargon eifrig winzigste künstliche Problemfelder beackere. Alles richtig! Schließlich gibt es tatsächlich eine Dissertation über die Rolle des Strichpunkts im Spätwerk Heinrich Heines. Allzu oft auch kreuzt man den Weg von sich akademisch wohlbestallt mit Literatur Beschäftigenden und muss konsterniert konstatieren, dass es für sie keinerlei Unterschied auszumachen scheint, einen Beipackzettel auszudeuten oder sich über einen Satz von Kafka, Keller und Musil oder ein Gedicht Christine Lavants zu beugen.
Der Schweizer Peter von Matt, im Mai dieses Jahres 80 Jahre alt geworden und mehr als ein Vierteljahrhundert lang Ordinarius an der Universität Zürich, ist eine der wenigen, sich davon glanzvoll hebenden Ausnahmen. Aus dem fachgermanistischen Beschreiten abgefahrener Diskursholzwege hat er für sich das Gegenteil abgeleitet und ein konträres Geschäftsmodell literarischer Umkreisung entwickelt – das Ausleuchten von Gefühlszuständen. So bündelte er in der Vergangenheit Essays über Liebesverrat, Familiendesaster sowie Hinterlist und Intrige zu Büchern. Nun schreibt er über die Anthropologie und die Wissenskunde der Dichterinnen und Dichter über das Küssen und Küsse. Und zwar bei Virginia Woolf, Scott Fitzgerald, Gottfried Keller – ihm sichtlich am nächsten stehend, er präsentiert sich unverhohlen als entflammter Keller- Verehrer –, bei Grillparzer, Kleist, Marguerite Duras und Anton Tschechow. Über die Abfolge mag man füglich streiten, wieso Duras vor Tschechow und vor Duras der Essay über Kleists so grotesk daherkommende und in seinen Einzelszenen noch groteskere Erzählung Marquise von O...., nicht jedoch über die Vorgehensweise. Denn der Titel der kleinen Studie über Tschechows Der Kuss, „Glück als Infektion“, gilt im Großen für dieses Buch im Ganzen. Literatur als Infektion. Lektüre als ansteckende Glücksverführung. Literatur als Passion. Von Matt zeigt sich als durch und durch passionierter, also leidenschaftlicher Leser, auch wenn man sich hie und da, etwa bei Fitzgerald, wünschte, er hätte noch etwas mehr rings um dessen Roman Der große Gatsby zur Kenntnis genommen.
Philematologie, abgeleitet von griechisch „philma“für Kuss, wird beim aus Luzern gebürtigen Philologen zum klugen Streifzug, das Aufdrücken der gespitzten Lippen auf den Körper eines anderen Menschen, wie es nüchternphysiologisch heißt, zum heißkalten Ereignis. Seinen Sätzen vermag er Rhythmus zu geben, Melodie und Wohlklang. Die Sprache liebt ihn und küsst zurück, heftig und mit Verve. Wie heißt es beim deutschen Romantiker Adelbert von Chamisso: „Küssen will ich, ich will küssen“! Davor jedoch steht das Lesen dieses Prosabandes über das Küssen.
com Peter von Matt ist bei den Erich-FriedTagen im Literaturhaus Wien (28. 11. – 3. 12.) zum Thema „Ach! Reden über die Liebe“zu Gast.
Peter von Matt, „Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur“. € 22,70 / 288 Seiten. Hanser, 2017 freundin, die eines Tages wegzog, nach Canarsie (ein anderer Teil von Brooklyn), und ich hab sie nie wiedergesehen.“Vor kurzem habe sie nachgeschaut, wie weit Canarsie eigentlich entfernt liegt, und festgestellt, dass es ungefähr vier Meilen sind, mit dem Auto hätte man in einer Viertelstunde dort sein können. „Aber für mich war’s damals, als wäre sie nach China gezogen.“Man verließ einfach nicht die Neighborhood, rundherum war fremdes Land, auf der einen Seite die Italiener, weiter drüben waren Norweger, dort die Schwarzen, und man ist nirgends hingegangen, und die anderen sind auch nicht hergekommen.
Wir fahren weiter, Richtung Atlantik, in ganz andere Gegenden. Ich merke, dass Roz wirklich dieser Person ähnelt, die sie in ihren Arbeiten karikiert: Kaum steigen wir aus, ist sie verloren und hat keine Ahnung, wo es weitergehen soll. Dafür sieht sie gleich Läden voll fantastischem Kitsch, verwegene Stucco-Palazzi, einen roten Rennwagen, der im Vorgarten parkt, Kioske mit Zeitungen in rätselhaften Sprachen – alles Rohmaterial für das neue Buch. „Mehr als zweieinhalb Millionen Leute leben hier“, sagt Roz, als ob sie es selber nicht glauben kann. „Wir fahren zehn Straßen weiter und sind in einem anderen Land. Wo gibt es das noch?“
Noch hat sie keine Zeichnungen gemacht, nur immens viele Fotos als visuelle Memos. Wenn ich ihr zusehe, wie sie, statt wie befürchtet aufgesaugt zu werden, selber aufsaugt, wie sie mit der naiven Begeisterung einer, ja: Zwölfjährigen alles um sich herum wahrnimmt und zugleich scharfsinnig kommentiert, wie sie das Verrückte einer neureichen Reihenhaussiedlung sieht und die Poesie auf dem Tisch eines überdrehten Diners (Two Huge Hot Dogs and a Knish), dann lässt sich das neue Buch in Umrissen erahnen.
Es wird anders geraten als Going Into Town, weniger eine beschwingte Liebeserklärung, eher eine Vermessung, bei der sie im Tagbau Schichten ihrer Erinnerung abträgt. „Wenn ich tiefer in Brooklyn eindringe, so wie wir heute“, sagt Roz, „dann hab ich das Gefühl, ich hab vieles schon in Träumen gesehen, und das vermischt sich mit der Wirklichkeit.“
Träume sind ihr wichtig, sie denke, sagt sie, vielleicht mehr über sie nach, als sie sollte. „Für mich sind sie ein seltsamer Zustand meines Bewusstseins.“Roz Chast wird diesen Zustand in ein Buch übersetzen. Es wird wohl wieder ein sehr ungewöhnlicher Stadtführer sein.
Am kommenden Samstag, 2. 12., wird es in der Radiosendung „Diagonal stellt vor“unter anderem auch um Roz Chast gehen. Ö1, 17.05. Das Buch „Going Into Town. A Love Letter to New York“wird im April 2018 auf Deutsch unter dem Titel „Liebesbrief an New York bei Rowohlt herauskommen. Chast nach Brooklyn. Roz Chast, Michael Freund
ALBUM Mag. Mia Eidlhuber (Redaktionsleitung) E-Mail: album@derStandard.at