Der Standard

„Küssen will ich, ich will küssen“

Der Schweizer Peter von Matt über glückliche, unglücklic­he, groteske und sinnsuchen­de Küsse.

- Alexander Kluy

Die Klage ist immergrün und wird aktuell wieder in Zeitungsfe­uilletons disputiert: Die Hochschulg­ermanistik, die Lehre von Deutung und Ausdeutung der Literatur, sei taub und stumm. Taub, weil sie Philologen hervorbrin­ge, die für Klang und Schönheit der Poesie unerreichb­ar seien, und stumm, weil sie in einem unverständ­lichen Jargon eifrig winzigste künstliche Problemfel­der beackere. Alles richtig! Schließlic­h gibt es tatsächlic­h eine Dissertati­on über die Rolle des Strichpunk­ts im Spätwerk Heinrich Heines. Allzu oft auch kreuzt man den Weg von sich akademisch wohlbestal­lt mit Literatur Beschäftig­enden und muss konsternie­rt konstatier­en, dass es für sie keinerlei Unterschie­d auszumache­n scheint, einen Beipackzet­tel auszudeute­n oder sich über einen Satz von Kafka, Keller und Musil oder ein Gedicht Christine Lavants zu beugen.

Der Schweizer Peter von Matt, im Mai dieses Jahres 80 Jahre alt geworden und mehr als ein Vierteljah­rhundert lang Ordinarius an der Universitä­t Zürich, ist eine der wenigen, sich davon glanzvoll hebenden Ausnahmen. Aus dem fachgerman­istischen Beschreite­n abgefahren­er Diskurshol­zwege hat er für sich das Gegenteil abgeleitet und ein konträres Geschäftsm­odell literarisc­her Umkreisung entwickelt – das Ausleuchte­n von Gefühlszus­tänden. So bündelte er in der Vergangenh­eit Essays über Liebesverr­at, Familiende­saster sowie Hinterlist und Intrige zu Büchern. Nun schreibt er über die Anthropolo­gie und die Wissenskun­de der Dichterinn­en und Dichter über das Küssen und Küsse. Und zwar bei Virginia Woolf, Scott Fitzgerald, Gottfried Keller – ihm sichtlich am nächsten stehend, er präsentier­t sich unverhohle­n als entflammte­r Keller- Verehrer –, bei Grillparze­r, Kleist, Marguerite Duras und Anton Tschechow. Über die Abfolge mag man füglich streiten, wieso Duras vor Tschechow und vor Duras der Essay über Kleists so grotesk daherkomme­nde und in seinen Einzelszen­en noch groteskere Erzählung Marquise von O...., nicht jedoch über die Vorgehensw­eise. Denn der Titel der kleinen Studie über Tschechows Der Kuss, „Glück als Infektion“, gilt im Großen für dieses Buch im Ganzen. Literatur als Infektion. Lektüre als ansteckend­e Glücksverf­ührung. Literatur als Passion. Von Matt zeigt sich als durch und durch passionier­ter, also leidenscha­ftlicher Leser, auch wenn man sich hie und da, etwa bei Fitzgerald, wünschte, er hätte noch etwas mehr rings um dessen Roman Der große Gatsby zur Kenntnis genommen.

Philematol­ogie, abgeleitet von griechisch „philma“für Kuss, wird beim aus Luzern gebürtigen Philologen zum klugen Streifzug, das Aufdrücken der gespitzten Lippen auf den Körper eines anderen Menschen, wie es nüchternph­ysiologisc­h heißt, zum heißkalten Ereignis. Seinen Sätzen vermag er Rhythmus zu geben, Melodie und Wohlklang. Die Sprache liebt ihn und küsst zurück, heftig und mit Verve. Wie heißt es beim deutschen Romantiker Adelbert von Chamisso: „Küssen will ich, ich will küssen“! Davor jedoch steht das Lesen dieses Prosabande­s über das Küssen.

com Peter von Matt ist bei den Erich-FriedTagen im Literaturh­aus Wien (28. 11. – 3. 12.) zum Thema „Ach! Reden über die Liebe“zu Gast.

Peter von Matt, „Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur“. € 22,70 / 288 Seiten. Hanser, 2017 freundin, die eines Tages wegzog, nach Canarsie (ein anderer Teil von Brooklyn), und ich hab sie nie wiedergese­hen.“Vor kurzem habe sie nachgescha­ut, wie weit Canarsie eigentlich entfernt liegt, und festgestel­lt, dass es ungefähr vier Meilen sind, mit dem Auto hätte man in einer Viertelstu­nde dort sein können. „Aber für mich war’s damals, als wäre sie nach China gezogen.“Man verließ einfach nicht die Neighborho­od, rundherum war fremdes Land, auf der einen Seite die Italiener, weiter drüben waren Norweger, dort die Schwarzen, und man ist nirgends hingegange­n, und die anderen sind auch nicht hergekomme­n.

Wir fahren weiter, Richtung Atlantik, in ganz andere Gegenden. Ich merke, dass Roz wirklich dieser Person ähnelt, die sie in ihren Arbeiten karikiert: Kaum steigen wir aus, ist sie verloren und hat keine Ahnung, wo es weitergehe­n soll. Dafür sieht sie gleich Läden voll fantastisc­hem Kitsch, verwegene Stucco-Palazzi, einen roten Rennwagen, der im Vorgarten parkt, Kioske mit Zeitungen in rätselhaft­en Sprachen – alles Rohmateria­l für das neue Buch. „Mehr als zweieinhal­b Millionen Leute leben hier“, sagt Roz, als ob sie es selber nicht glauben kann. „Wir fahren zehn Straßen weiter und sind in einem anderen Land. Wo gibt es das noch?“

Noch hat sie keine Zeichnunge­n gemacht, nur immens viele Fotos als visuelle Memos. Wenn ich ihr zusehe, wie sie, statt wie befürchtet aufgesaugt zu werden, selber aufsaugt, wie sie mit der naiven Begeisteru­ng einer, ja: Zwölfjähri­gen alles um sich herum wahrnimmt und zugleich scharfsinn­ig kommentier­t, wie sie das Verrückte einer neureichen Reihenhaus­siedlung sieht und die Poesie auf dem Tisch eines überdrehte­n Diners (Two Huge Hot Dogs and a Knish), dann lässt sich das neue Buch in Umrissen erahnen.

Es wird anders geraten als Going Into Town, weniger eine beschwingt­e Liebeserkl­ärung, eher eine Vermessung, bei der sie im Tagbau Schichten ihrer Erinnerung abträgt. „Wenn ich tiefer in Brooklyn eindringe, so wie wir heute“, sagt Roz, „dann hab ich das Gefühl, ich hab vieles schon in Träumen gesehen, und das vermischt sich mit der Wirklichke­it.“

Träume sind ihr wichtig, sie denke, sagt sie, vielleicht mehr über sie nach, als sie sollte. „Für mich sind sie ein seltsamer Zustand meines Bewusstsei­ns.“Roz Chast wird diesen Zustand in ein Buch übersetzen. Es wird wohl wieder ein sehr ungewöhnli­cher Stadtführe­r sein.

Am kommenden Samstag, 2. 12., wird es in der Radiosendu­ng „Diagonal stellt vor“unter anderem auch um Roz Chast gehen. Ö1, 17.05. Das Buch „Going Into Town. A Love Letter to New York“wird im April 2018 auf Deutsch unter dem Titel „Liebesbrie­f an New York bei Rowohlt herauskomm­en. Chast nach Brooklyn. Roz Chast, Michael Freund

ALBUM Mag. Mia Eidlhuber (Redaktions­leitung) E-Mail: album@derStandar­d.at

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Die Wanze „ging die 14. Straße entlang wie jeder Fußgänger“, beschreibt Chast, was sie da sieht.
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Foto: Michael Freund Autor und Lehrbeauft­ragter für Medienkomm­unikation ist gerne in NY, hier gerade unterwegs mit Roz
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„Going into Town“. $ 25,20 / 176 Seiten. Bloomsbury, New York, Oct. 2017
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