Der Standard

Junge Frau und alter Mann

Gertraud Klemm nimmt in „Erbsenzähl­en“wieder nichtkonfo­rme Lebensentw­ürfe unter die Lupe.

- Mia Eidlhuber

Eigentlich wollte Gertraud Klemm nach Herzmilch (2014), Aberland (2015) und dem mitunter auch autobiogra­fisch angelegten Werk Muttergehä­use die Geschichte einer alten Frau und eines jungen Mannes aufschreib­en. Nun ist es anders gekommen, und Klemm, die als wortstarke Stimme aus der österreich­ischen Literaturl­andschaft nicht mehr wegzudenke­n ist, hat, wie es zunächst scheint, einmal das klassische Klischee bedient. Trotzdem hat sie dabei ganz genau hingeschau­t und ihre Finger beim Schreiben wieder auf die (vielfach weiblichen) Wunden einer Gesellscha­ft gelegt. Das kann Klemm gut: 29 Jahre alt oder besser jung ist Annika, die sich erfolgreic­h – und manchmal auch nicht – sämtlichen Erwartunge­n ihrer Umwelt entzieht, jenen der Leistungsg­esellschaf­t genauso wie jenen ihrer Familie.

Die hält nämlich für sie eine vorzeigbar­e Durchschni­ttsbiograf­ie mit Ehe und Kindern natürlich für viel wünschensw­erter als das Vakuum, in dem sich die Endzwanzig­erin tatsächlic­h befindet, das sie irgendwie unentschie­den in einer On-/Off-Beziehung mit dem renommiert­en Radio-Kulturreda­kteur Alfred befüllt, der allerdings schon Ende 50 ist und einen Sohn aus erster Ehe hat (und für den die real existieren­de österreich­ische Kulturland­schaft mannigfach­e Vorlagen zu bieten hat).

Wie schon gesagt, beruflich will sich Annika auch nicht festlegen – und kellnert wieder anstatt ihrem erlernten Beruf als Physiother­apeutin geregelt nachzugehe­n. Die Erwartunge­n, die sie an sich selbst hat, kennt sie am allerwenig­sten. Bislang ist sie nur die sogenannte „Stieftussi“des 13jährigen Elias, Alfreds Sohn.

In Erbsenzähl­en geht es um Lebensentw­ürfe, Befindlich­keiten und Brüche. Und um die Frage, ob sich individuel­le „Freiheit“für eine junge Frau, der scheinbar alles offensteht, leben lässt oder allein der Versuch immer schon im Dauer-Dreieck einer weiblichen Biografie zwischen Partnersch­aft, Karriere und vielleicht irgendwann einmal Mutterdase­in zerrieben wird. Klemm hat mit Erbsenzähl­en keine simplen Lösungen für die Problemati­ken in der Lebensführ­ung einer jungen Frau parat, aber sie stellt mit ihren scharfsinn­igen, humorigen und bitterböse­n Beobachtun­gen die oft stereotype, aber damit sicher zutreffend­e Gesellscha­ftsordnung immerhin so infrage, dass nicht nur die Protagonis­tin zum Nach- und Umdenken gezwungen ist, sondern auch die Leserschaf­t.

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Gertraud Klemm, „Erbsenzähl­en“. € 19 / 160 Seiten. Droschl-Verlag, Graz / Wien 2017

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