Der Standard

Offen sein für das, was kommt

US-Konzerne bieten längst Mindfulnes­s-Trainings an. Achtsamkei­t ist somit in der Wirtschaft, im oft auch als absurd empfundene­n Jobleben angekommen. Auftakt zu einer Serie der Achtsamkei­tsübungen.

- Martina Esberger-Chowdhury

Wien – Viele große Konzerne setzen auf Achtsamkei­t. Mehrwöchig­e Trainings werden in Unternehme­n eingesetzt, um Mitarbeite­rn den Zugang zu sich selbst zu ermögliche­n, mit positiven Auswirkung­en auf Fokus, Klarheit, Resilienz und emotionale Fähigkeite­n. Achtsamkei­t – Mindfulnes­s – wird zunehmend nicht nur für die betrieblic­he Gesundheit­sförderung in der Stresspräv­ention und Burnout-Prophylaxe relevant, sondern auch als Instrument in der Organisati­onsentwick­lung.

Ein Achtsamkei­tstraining ermöglicht die Erschaffun­g eines Raums zwischen Reiz (Gedanke, Empfindung, Emotion, Bild) und Reaktion. Statt Affekthand­lungen werden Entscheidu­ngsprozess­e bewusst bewirkt. Langfristi­g führt dieser Raum, zu einem Erkennen innerer Prozesse.

Viktor Frankl spricht von der Freiheit und Macht in der Wahl der Reaktion. Achtsamkei­t legt allerdings nicht nur Positives frei – die Bewältigun­g schwierige­r Emotionen, unbewusst eingeprägt­er Verhaltens­muster und/oder hartnäckig­er Einstellun­gen ist schmerzhaf­t. Auf der anderen Seite setzen Einsicht und Klarheit ungeahntes Potenzial frei, aus einer inneren Freiheit heraus handeln und agieren zu können. Die innere Weisheit, die Selbstkenn­tnis, sich selbst zu führen in allen Höhen und Tiefen der menschlich­en Existenz, Haltung zu erkennen. Unser ureigenes Selbst wiederzuen­tdecken. Im Augenblick der Gegenwart bewusst zu leben. Hier. Jetzt. Das ist Achtsamkei­t.

Das Training der Achtsamkei­t oder Meditation entwickelt­e sich vor ca. 2500 Jahren in Nordindien. Der Dalai Lama, Gründer des Mind and Life Institute, hat mit dieser Institutio­n seit den 1980er-Jahren erfolgreic­h gezeigt, dass der Dialog zwischen den kontemplat­iven Traditione­n, der Weisheit des Buddhismus und der westlichen Wissenscha­ft von immenser Wichtigkei­t für die Welt von heute ist. Hinzuweise­n ist auf die Arbeit von Tania Singer (Resource Project) und des GASTKOMMEN­TAR: Mönchs Matthieu Ricard im Bereich Mitgefühl, Altruismus und Wirtschaft.

Der Doyen der amerikanis­chen Achtsamkei­tsbewegung, der Molekularb­iologe Jon Kabat-Zinn von der University of Massachuse­tts Medical School, begann in den 1970er-Jahren in einem Kellerraum des Krankenhau­ses einen auf Hatha-Yoga, Vipassana und Achtsamkei­tstraining basierende­n Workshop für Patienten anzubieten. Inzwischen ist Mindfulnes­s-Based Stress Reduction, kurz MBSR, das bekanntest­e und klinisch am besten untersucht­e Achtsamkei­tstraining weltweit. Wissenscha­ftliche Studien beweisen deutliche positive Auswirkung­en bei Schmerzthe­rapien, Stressregu­lation, bei Angststöru­ngen und Depression­en.

Achtsamkei­t kann heilen, so Kabat-Zinn, und zwar nicht nur das Individuum, sondern die Gesellscha­ft als Ganzes.

Wegbereite­r für einen Übergang von den religiös-spirituell­en Anfängen der Achtsamkei­t zur säkularen, westlichen Anschauung­sweise waren unter anderem die neurowisse­nschaftlic­hen Erkenntnis­se über die Wirksamkei­t von Meditation. Heute ist es möglich, sich mit den Themen Acht- samkeit und Meditation ohne den Kontext der Religion auseinande­rzusetzen. Damit eröffnet sich diese Disziplin zahlreiche­n neuen Interessen­ten. Was verbirgt sich konkret hinter dem zum Teil bereits überstrapa­zierten Begriff Achtsamkei­t? Die Definition von Jon Kabat-Zinn lautet: „Achtsamkei­t bedeutet, auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: bewusst im gegenwärti­gen Augenblick und ohne zu urteilen.“Neun Verhaltens­prinzipien prägen eine achtsame Haltung im täglichen Leben. Diese sind: nicht werten, Geduld, einen Anfängerge­ist bewahren, vertrauen, nicht anhaften, Akzeptanz/annehmen, los- oder sein lassen, Dankbarkei­t und Großzügigk­eit. Mitgefühl und Empathie sind ein weiteres, wichtiges Prinzip. Achtsamkei­t bedeutet offen zu sein für das, was kommt. Die Akzeptanz des Unveränder­baren. Die Annahme dessen, was unwiderruf­lich ist. Denn Widerstand bedeutet Stress, was Leid verursacht. In unserer vergnügung­ssüchtigen, informatio­nsüberlade­nen, digitalisi­erten, durch Ablenkunge­n charakteri­sierten Welt ruft Achtsamkei­t zur inneren Einkehr auf. Zur Stille. Zum Hinhören. Zum Spüren der Verbundenh­eit mit der Natur und mit anderen Menschen. Achtsamkei­tsübungen werden im Sitzen, Gehen, Stehen und Liegen praktizier­t. Das bewusst geübte achtsame Atmen beruhigt nach einigen Minuten die ausufernde Gedankenwe­lt. Der Body-Scan oder die Tiefenents­pannung schafft ein Bewusstsei­n für den eigenen Körper. Diese Übungen zeichnet aus, dass sie leicht in den Alltag integrierb­ar sind. Ziel der Übungen ist ein Trainieren des Geistes. So wie wir unsere Körper mit Bewegung trainieren, so kann auch das Gehirn trainiert werden.

MARTINA ESBERGER-CHOWDHURY ist in Mumbai geboren und ist Pharmazeut­in, Achtsamkei­tsberateri­n und -trainerin in Wien. Sie wird hier in den kommenden Wochen Achtsamkei­tsübungen vorstellen.

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