Spätes Ende der Geschichte
Sowjetschach, die politische Partie des Jahrhunderts – Serie „100 Jahre Oktoberrevolution und die Folgen“V: Nachspiel. Von ruf & ehn
1924 beschwor der deutsche Schriftsteller Kurt Kersten (1891–1962) auf seiner Winterreise Moskau, Leningrad den neuen russischen Menschen, den die Oktoberrevolution hervorbringen wird. Er ist, so Kersten, der pure Gegensatz „zum Nachtwandler, zum Menschen mit Hang zum Phantasten“, ein „Mensch der Sachlichkeit, der Präzision, mit Sprungbereitschaft und feiner Empfindung für die Bewegung“. Sucht man für eine derart tolle Person eine geeignete Tätigkeit, so wäre der neue Mensch ein idealer Schachspieler: sachlich, präzise, geistig beweglich. Im Weltbild des Kommunismus ist Schach tatsächlich ein Musterbeispiel für „freies Arbeiten“, das bei Marx bekanntlich nicht Spielerei, sondern wie die Kunst „verdammtester Ernst“ist.
Das alles scheint heute Lichtjahre weit entfernt, wie die Losung, die wir auf einem Plakat beim Schachmatch DDR – UdSSR aus dem Jahr 1982 lesen: „Wer sein Bestes gibt, um unseren sozialistischen Staat allseitig zu stärken“, heißt es da, „der gibt sein Bestes für sein eigenes sicheres, sinnerfülltes und glückliches Leben.“Das war tatsächlich einmal irgendwie ernst gemeint. Nach 1989 sank die Sowjetunion fast lautlos in sich zusammen, das Ende erfolgte ganz im Lenin’schen Sinn: Die Herrschenden konnten nicht mehr, die Beherrschten wollten nicht mehr. Mit der gigantischen mafiösen Privatisierung des Staates löste sich in den Folgejahren auch das dichte Netz der staatlichen Schachförderung auf. Im Schach war die Zeit Garri Kasparows angebrochen, windige Oligarchen und launische Mäzene nahmen das Heft in die Hand. Von Zentren wie Moskau und Petersburg wich Schach in Randzonen aus. Hochdotierte Turniere werden heute in der sibirischen Ölmetropole ChantyMansijsk oder in Elista, der Hauptstadt Kalmückiens, gespielt.
Natürlich ist Russland mit 241 Großmeistern nach wie vor die führende Schachnation der Welt. Natürlich ist bis heute ein Fortwirken der sowjetischen Schachschule in der Trainerausbildung und im hohen Niveau der Jugendförderung auch in der postsowjetischen Gegenwart spürbar, doch die Privilegierung und ideologische Aufladung des Schachspiels nahm ein Ende. Im Putinismus verliert sich der historische Impuls endgültig. Die erfolgreichsten Sowjetgroßmeister ließen sich im Westen nieder, wenn sie nicht schon längst dort waren.
Aber das Spiel war noch nicht aus. Ein Nachspiel à la Beckett ereignete sich 1990 bei der Teleschach-Olympiade (ein Schachturnier per Telefon). Im Finale standen sich die Mannschaften der DDR und der UdSSR gegenüber, das Sowjetteam, das im Moskauer Zentralschachklub versammelt war, war hoher Favorit. Doch es gewann die DDR. Der Klub war in völliger Auflösung begriffen. Einige Spieler waren sturzbetrunken, andere waren während der Partie nach Hause gegangen. Am Ende soll schließlich der Hausmeister die Züge ausgeführt haben.
Einen allerletzten gespenstischen Sieg errang der Sozialismus 1995. Die 10. Fernschach-Olympiade, die 1988 begonnen worden war, musste noch fertiggespielt werden. Es siegte die nicht mehr existente UdSSR, hier die folgende Partie von Grigori Sanakoev am 5. Brett des Sowjetteams.
Sarink – Sanakoev Fernschach-Olympiade 1995
Eine harmlose Fortsetzung gegen die sizilianische Verteidigung, nach der Schwarz leicht ausgleicht. Ein temporäres Bauernopfer.
Schwarz umspielt den Bd5, den er jederzeit wieder zurückgewinnen kann.
Eine bestechende strategische Idee. Der deplatzierte Turm geht nach d7 und stellt das harmonische Zusammenspiel der schwarzen Figuren wieder her.
Weiß sollte die Spannung mit 22.Lh4 De6 23.Se3 aufrecht halten.
Ergreift sofort die Initiative. Schlechter war 24.Txd7 wegen 24… Sxe2 tungen. Letzte Vorberei-
Oder 30.Sd5 Te2 31.Sxf4 Txf2 32.Txf2 Te4 mit schwarzer Gewinnstellung. Nun hängt das Springeropfer auf g2 in der Luft.
Versucht zu retten, was noch zu retten ist: 31.Td7 Sxg2 32.Sxg2 Txh4+ 33.Kg1 Th1 ist matt und 31.Lc2 Txe3 32.Dxf4 Th3+ 33.Kg1 Txh4 wird es in Kürze.
Ein wuchtiges Opfer, das die Partie entscheidet. Weiß kann sich nur in ein verlorenes Turmendspiel retten.
Die Pointe! Da 36… Te1+ droht, verliert Weiß nach 36.Tf1 Lxd5+ 37.Txd5 Txa2 einen zweiten Bauern, daher 0–1 Sf6 1... Te7!!1. 2715:
Th2 Ka6!!1. Vorwoche):( 2713 Lösungen: