Der Standard

Altes ausblenden, um Neues zu schaffen?

Überrasche­nd, was alles nicht im Blickfeld der „Techies“liegt. Ist die Idee des Vergessens, vielleicht besser des Ausblenden­s, von strategisc­her Wichtigkei­t, um das Neue zu schaffen? Ich beobachte im Valley einen pragmatisc­hen Zugang.

- Michael Shamiyeh aus Palo Alto

Tom Peters, der US-amerikanis­che Unternehme­nsberater und Bestseller­autor, hat einmal zutreffend festgehalt­en, dass Lernen ein Kinderspie­l sei, Vergessen aber die Hölle. Dies treffe insbesonde­re auf erfahrene Manager zu. Gerade in Zeiten permanente­r Umbrüche sei daher die Idee des Vergessens von strategisc­her Wichtigkei­t.

Die heutige Dynamik des Silicon Valley in Hinblick auf permanent Neues drängt daher nahezu die Frage auf, ob die Kalifornie­r nichts „Altes“haben, das sie vergessen müssen.

Stanford allein hat als Silicon Valleys Inkubator für Neues wie kaum eine andere Bildungsei­nrichtung weltveränd­ernde Zukunftsma­cher hervorgebr­acht. Prominente Beispiele hierfür sind die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin, die sämtliche Informatio­nen unserer Welt organisier­en und mit einem Klick zugänglich machen, Peter Thiel, der als Miterfinde­r von Paypal die Art, wie wir bezahlen, veränderte, der Youtube-Gründer Jawed Karim, der uns das gemeinsame Sehen und Teilen von Filmen ermöglicht­e usw., usw. Die Liste könnte mit zahlreiche­n weiteren Tech-Unter- nehmen wie Linkedin, Instagram, Cisco, Snapchat und Whatsapp etc. diesen Beitrag füllend fortgesetz­t werden.

Hatten diese Technologi­eentrepren­eure nichts Altes zu vergessen, das sie im Machen der Zukunft behinderte? Oder ist das Silizium von gestern das einzig „Alte“, das schon immer das Neue von morgen beinhaltet­e?

Seit meiner Ankunft im Tal beobachte ich einen viel pragmatisc­heren Zugang als zu vergessen, nämlich das konsequent­e, alles andere ausblenden­de Fokussiere­n auf die Zukunft. Steve Jobs gibt dafür ein beredtes Beispiel. Der Legende nach soll er bei seinem Wiedereint­ritt bei Apple im Jahr 1996 sämtliche Computermo­delle von gestern, die zu großen Veränderun­gen in der Branche führten, weggeworfe­n und durch neue Prototypen ersetzt haben. Aus den Augen, aus dem Sinn!

In Palo Alto angekommen, war ich überrascht, wie viel hier nicht im Blickfeld der „Techies“liegt: Die Gestalter unserer Zukunft wohnen traditione­ll, ja teilweise sogar rückwärtsg­ewandt. Gleich ums Eck von meinem Apartment befindet sich die Geburtsstä­tte des Silicon Valley, die Gründergar­age von William R. Hewlett und David Packard, in der beide 1938 ihr erstes Produkt entwickelt­en. Die traditione­lle Architektu­r des Hauses unterschei­det sich kaum von den anderen einfachen und mit Holz verschalte­n Wohnhäuser­n der Umgebung. Nur acht Querstraße­n weiter befindet sich das im britischen Landhausst­il gehaltene Wohnhaus von Steve Jobs. Das Alte ist hier, sowie auch am Stanford-Campus, allgegenwä­rtig. Nichts zeugt hier von Zukunft, und trotzdem wird sie hier in rasendem Tempo gemacht. Der Fokus liegt anderswo.

Auch Ursache des Mangels

Nicht zuletzt scheint genau dieser fehlende Blick auf das Ganze die Ursache für vieles Alte zu sein, das die Vordenker des Silicon Valley nun aber auch zunehmend in Gefangensc­haft nimmt: der Mangel an gut ausgebaute­m öffentlich­em Verkehr abseits der Hauptroute­n und das damit einherge- hende hohe Maß an Individual­verkehr. Seit Jahren steigen die Immobilien­preise aufgrund des fehlenden Wohnraumes. 4000 Dollar Miete für ein Einzimmers­tudio sind Standard, was selbst für die gutverdien­enden Mitarbeite­r der Hightechko­nzerne mittlerwei­le zu einem Problem geworden ist. Die daraus resultiere­nde Abwanderun­g nach San Francisco im Norden oder San Jose im Süden führt zu legendären Staus. Bis zu drei Stunden am Tag Pendeln ist nichts Außergewöh­nliches.

Dem Problem begegnen die Großen der Szene mit Pragmatik. Sie bieten ihren Mitarbeite­rn mittlerwei­le Pendlerbus­se mit Highspeed-Internet. Google ist mittlerwei­le das größte Busunterne­hmen in der Bay-Area mit 80.000 Passagiere­n pro Woche. So wird der Stillstand im Alten zumindest für Fortschrit­t im Neuen genutzt.

Die Situation des Ausblenden­s erinnert an viele Zukunftsma­cher der Vergangenh­eit. Le Corbusier, zum Beispiel, Architekt, Urbanist und Erneuerer seiner Zunft, wohnte gemessen an seiner Auffassung des modernen Bauens in einer „Altbauwohn­ung“.

Nicht viel anders hielt es Ferdinand Porsche, Pionier bahnbreche­nder und bis in unsere Gegenwart hineinwirk­ender Ingenieurl­eistungen. Als er Anfang der 1920er-Jahre zum technische­n Direktor und Vorstandsm­itglied der Daimler-Motoren-Gesellscha­ft in Stuttgart bestellt wurde, ließ er sich ein konvention­elles Wohnhaus von Paul Bonatz, einem der bedeutends­ten Architekte­n des Traditiona­lismus, bauen. Zu jener Zeit erfuhren die Ideen des Deutschen Werkbundes zur radikalen Erneuerung der Architektu­r aber bereits eine breite Popularisi­erung.

Was lernen wir daraus? Neues bedingt nicht notwendige­rweise Neues im weiteren Umfeld. Erst durch ein in die Zukunft gerichtete­s Denken und Handeln sowie durch zwischenme­nschliche Interaktio­n wird das Morgen allgegenwä­rtig. Mit einer Frage möchte ich hier enden: Wie können die weltveränd­ernden Erfindunge­n eine breite gesellscha­ftliche Vision verkörpern, wenn deren Ingenieure geprägt sind von einem permanente­n Fokus?

MICHAEL SHAMIYEH ist Unternehme­r im Bereich Strategy-Foresight & FutureDesi­gn und Universitä­tsprofesso­r, Leiter des neuen Center for Future Design mit Sitz an der Kunstunive­rsität Linz, geführt in Kooperatio­n mit dem Institut für Wirtschaft­sinformati­k St. Gallen. Er berichtet für den STANDARD von seiner Gastprofes­sur in Stanford.

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Michael Shamiyeh geht der Frage nach, wer die Zukunft „macht“und unter welchen Voraussetz­ungen.

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