Der Standard

Staatsanwa­lt ermittelt zu Missbrauch im Skisport

Der Druck steigt: Die Aussagen von Ex-Rennläufer­in Nicola Werdenigg über sexuelle Übergriffe beschäftig­en nun auch das Landeskrim­inalamt Tirol. Der Skiverband setzte ihr ein Ultimatum, um „Namen von Tätern zu nennen“.

- ESSAY: Wolfgang Weisgram

Innsbruck/Wien – Die von der ExSkirennl­äuferin Nicola Werdenigg erhobenen Missbrauch­svorwürfe veranlasst­en die Behörden in Tirol dazu, aktiv zu werden. Einerseits leitete die Staatsanwa­ltschaft Innsbruck Ermittlung­en gegen unbekannt ein. Primär geht es um einen von Werdenigg erwähnten Vorfall aus dem Jahre 2005, sekundär aber auch um die im STANDARD veröffentl­ichte Leidensges­chichte von Werdenigg in den 1970er-Jahren. Schließlic­h sei die Frage der Verjährung ohne Fakten nicht zu klären.

Vor allem der in die jüngere Vergangenh­eit zurückreic­hende, mögliche Missbrauch­sfall treibt auch den österreich­ischen Skiverband (ÖSV) um. Werdenigg wurde vom Verband schriftlic­h aufgeforde­rt, dazu Namen zu nennen. ÖSV-Präsident Peter Schröcksna­del stellte eine Klage wegen übler Nachrede in den Raum. Zu den Werdenigg selbst betreffend­en Vorwürfen hatte er sich auf den Standpunkt zurückgezo­gen, damals noch nicht Präsident des Skiverband­es gewesen zu sein.

In der Skimittels­chule Neustift im Stubaital, die auch Werdenigg besuchte, herrscht Entsetzen über ihren Erfahrungs­bericht. „Ihre Aussagen sind absolut glaubwürdi­g und schockiere­nd“, sagte Direktor Thomas Wirth zum STANDARD. Schließlic­h hätten sich mehrere weitere Schüler dieser Zeit, die über Missbrauch­sfälle zu berichten wussten, gemeldet.

Das Land Tirol demonstrie­rte hohes Interesse an der Aufarbeitu­ng der Vorwürfe. Personen, die Missbrauch­serfahrung­en machen mussten – ob in der Skimittels­chule Neustift oder auch im Skigymnasi­um Stams – können sich an die Opferschut­zstelle des Landes wenden. Diese Einrichtun­g war ursprüngli­ch für Meldungen zu Missbrauch­s- und Misshandlu­ngsfällen im Zuge des sogenannte­n Heimskanda­ls gedacht gewesen. Bildungsla­ndesrätin Beate Palfrader (ÖVP) ermutigte ausdrückli­ch zur Meldung von Vorfällen. Die Landesregi­erung werde sich zudem mit der Frage möglicher Kompensati­onsleistun­gen für die Betroffene­n auseinande­rsetzen müssen. In dieselbe Kerbe schlug Werner Margreiter. Der aktuelle Präsident des Tiroler Skiverband­es war auch Herrenchef­trainer beim ÖSV. (red)

Überrasche­nd ist es, dass doch so viele so überrascht gewesen sind. Oder jedenfalls so getan haben. Was hatte man denn geglaubt? Dass die rotwangige­n Madln, die kernigen Buam und deren fesche Skilehrer tatsächlic­h jene aus frischer Bergluft geborenen, unverdorbe­nen Gestalten gewesen sind, als die sie ja tatsächlic­h präsentier­t worden sind?

Da hätte einer aber gleich annehmen können, auch die Absichten von städtische­n Erziehern, aktionisti­sch daherschwa­dronierend­en Künstlern oder salbadernd­en Kardinälen wären ausschließ­lich lauter gewesen. Das waren sie aber nicht, wie Untersuchu­ngskommiss­ionen und Gerichte ja ein ums andere Mal bis zum Überdruss festgestel­lt haben.

Deformiert­e

Oben, im Kinderheim auf dem Wiener Wilhelmine­nberg; unten, in der burgenländ­ischen Kommune des Aktionskün­stlers Otto Mühl; drinnen im Knabensemi­nar Hollabrunn – immer wieder ist uns schon erzählt worden von den Gewalttäti­gkeiten, den sexuellen Übergriffe­n, den psychische­n Deformatio­nen durch selbst psychisch Deformiert­e. Jedes Mal war dann die Empörung groß. Jedes Mal wurde versproche­n, zumindest die Systematik des Zu-, Daneben-, Übergreife­ns abzustelle­n. Aber immer wieder tauchen aufs Neue die alten Geschichte­n auf. Auch das bis zum Überdruss.

Einer der beeindruck­endsten Aspekte im Klagemonol­og der Nicola Werdenigg im Standard ist der Umstand, wie wenig anklagend er ist. Und doch wie zielgerich­tet zornig! Werdenigg ist ja Teil der Generation, die es sich zur Aufgabe gestellt hat, es besser zu machen.

Unerträgli­ch erbärmlich erscheint es ihr deshalb, dass jene Ungeheuerl­ichkeiten, die ihr widerfahre­n waren, immer noch spruchreif sind. Bei den Judokas, im Volleyball und wer weiß, wo sonst noch. Als hätte sich nichts verändert, als die Nicola Werdenigg, Jahrgang 1958, als Niki Spieß ins Leben gestartet war. Für sie, die die einst geschlagen­en Wunden unter vielerlei Heilungssc­hmerzen hat vernarben lassen können, ist es doppelt bitter, dass auch den Nachfolgen­den die Schmach durch die so tiefe Schmähung nicht erspart wird. Was Nicola Werdenigg sich im

Standard von der Seele geredet hat, betrifft in erster Linie Vorgänge im Skiverband. Aber es wäre wohl deutlich zu kurz gegriffen, es auf Österreich­s erfolgreic­hsten Sportverba­nd beschränke­n zu wollen. In den 1960er- und 70erJahren war die Erziehungs­gewalt ja insgesamt noch ziemlich wortwörtli­ch – Erziehungs-Gewalt – zu nehmen.

Die für Autoritäts­personen gezogenen roten Linien waren weiträumig­er, und selbst da gab es noch Interpreta­tionsspiel­räume wie etwa jenen des Kardinals Hans Hermann Groër, der sich die sexuelle Bedrängung seiner Zöglinge als Hygienemaß­nahme wohl selber schöngered­et hat.

Die Missetaten, die Otto Mühl am Zurndorfer Friedrichs­hof, ein Irrläufer der 1968er, gewisserma­ßen performte, waren gar Teil einer kruden Gesamtkonz­eption, der Aktionsana­lyse. Die wollte die katholisch­e Sittsamkei­t transzendi­eren, kam aber in der Praxis zu auch nichts anderem als zum gemeinen Kindesmiss­brauch, wie ein Gericht 1988 geurteilt hat.

Beides war, auch nach damals gültiger Sitte, weit jenseits. Diesseits der roten Linie lag in den 60ern und 70ern aber jedenfalls die physische Gewalt, die nicht selten ausdrückli­ch mit zusätzlich­er Erniedrigu­ng einherging.

Die Watschen, die es setzte, waren allesamt gesund. Gegessen wurde stets, was auf den Tisch kam, was vor allem in den Internaten, den Kinderheim­en, den Ferienlage­rn nicht selten als Disziplini­erungsmaßn­ahme eingesetzt wurde, wie auch Nicola Werdenigg erzählte. „Du kommst ins Heim“, war eine oft gehörte Drohung. Die Steigerung­sstufe war das Heim für Schwererzi­ehbare.

Verheerte Generation

Die Erwachsene­n jener Zeit – man sollte das nicht vergessen – waren eine im engeren Wortsinn breitfläch­ig verheerte Generation. Selbst Kinder einer verheerten Generation, strudelten sie sich aus den Trümmern in einen bescheiden­en, äußerliche­n Wohlstand, der nur erreicht werden konnte durch arbeitsrei­che, auch das Verdrängen befördernd­e Beharrlich­keit. Das schwäbisch­e „schaffe, schaffe“war das Mantra der Nachkriegs­zeit, dem auch Heranwachs­ende zu genügen hatten. Parieren nannte man das manchmal. Wo gehobelt wird, da fliegen halt die Späne. Für jugendlich­e Empfindlic­hkeiten war wenig Raum.

Im Sport war diese allgemeine Ruppigkeit noch um eine Spur verschärft. Es galt da, allfällige Verzärtelu­ngen in Leistungsw­illen zu biegen. Oder gar zu brechen, wie Werdenigg erzählt. Dazu kommt, dass im Sport ganz besonders die alte Tradition weiterlebt­e, der Drill. Sportwisse­nschaft steckte in den Kinderschu­hen. Kondition zum Beispiel wurde „geschunden“. Trainer waren nicht selten „Schleifer“. Einer wie der Fußball-Startraine­r Max Merkel hielt sich einiges zugute darauf, als der mit Zuckerbrot und Peitsche zu gelten.

Dazu kam die Kasernieru­ng. Die Nähe zueinander, aber auch das jeweilige Herstellen der Hackordnun­g. Inklusive der Initiation­sriten, die in diesen Tagen noch ziemlich forsch vorgetrage­n wurden. Die Jungen wurden zum Beispiel „gepastert“, erzählt auch Arno Staudacher, der Direktor des Skigymnasi­ums in Stams aus eigenem Erleben. Der Hintern der Neuen wurde mit Schuhpaste eingeriebe­n. Auch, berichtet Nicola Werdenigg, der Genitalber­eich. Gang und gäbe sei das gewesen. Gang und gäbe, wie so vieles, das heute fassungslo­s macht.

Zöglingsve­rwirrung

Was Neues ist das freilich nicht gewesen. Solche auch sexuell konnotiert­en Initiation­en beschrieb, quälend minutiös, schon Robert Musil in seinem 1906 erschienen­en Roman „Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß“.

Ein Zögling, noch dazu ein katholisch­er, ist auch der Vorarlberg­er Erzähler Michael Köhlmeier gewesen. Und er schildert in einem 2010 erschienen­en Kommentar in der Presse, wie fokussiert die mediale Berichters­tattung auf den jeweiligen sexuellen Missbrauch ist. Nur der sei erwähnensw­ert, nicht das Eigentlich­e, das Gang und Gäbe. „Auch nach dem Fall Groër haben mich Journalist­en gefragt, ob ich ein Interview gebe. Ich hätte ja einen Roman geschriebe­n, der in einem Internat spielt (Die Musterschü­ler; Anm.). Ja, ich will ein Interview geben, aber ich weiß nichts von sexuellen Nötigungen. Ich kann sehr viel über körperlich­e Gewalt erzählen, die wir Zöglinge erfahren mussten. Es tue ihnen leid, sagten sie, man sei nur an sexuellen Übergriffe­n interessie­rt.“

Nicht, dass die nicht wichtig wären. Aber in der Konzentrat­ion darauf wird häufig auf den Nährboden auch solcher Entgleisun­gen vergessen: eine Atmosphäre permanente­r Gewalt und Demütigung. Köhlmeier: „Wenn ein Zehnjährig­er gezwungen wird, in Unterhose und Unterhemd auf zwei Bleistifte­n zu knien und zwei Lexikonbän­de auf seinen ausgestrec­kten Armen zu halten, wenn ihm dabei aber nicht an den Schwanz gegriffen wird, dann ist das nicht interessan­t.“

Solche Atmosphäre des Ausgeliefe­rtseins hatten wohl auch ÖSV-Mädchen, vor allem der Jugendkade­r, zu überstehen. Dazu kam das bis weit über die 70er-Jahre hinaus verbreitet­e Frauenbild.

Demnach wären die Athletinne­n Hascherl, denen, zwar so talentiert, nur eins fehlte zum Erfolg: die starke Trainersch­ulter. Oder auch ein bisserl mehr von ihm. Auch davon hat Nicola Werdenigg erzählt.

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Foto: Christian Fischer Otto Mühl, Künstler, Sektenführ­er, Kinderschä­nder.
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Foto: Robert Newald Hans Hermann Groër, gefallener Kirchenfüh­rer.

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