Der Standard

Polizeiaff­äre lenkt Iren von Brexit-Verhandlun­gen ab

Minderheit­sregierung von Premier Varadkar unter Druck – Misstrauen­svotum könnte zu Neuwahlen führen

- Sebastian Borger aus London

Wie anderswo in Europa ist auch in Irland der Einfluss der katholisch­en Kirche zuletzt stark zurückgega­ngen. Wenn sich aber der Dubliner Erzbischof Diarmuid Martin – in der Debatte um die Sexverbrec­hen irischer Priester eher im Lager der Aufklärer – zu Wort meldet, hört die Nation noch immer zu. Das Interesse des Landes komme an erster Stelle, schrieb der Geistliche am Sonntag den Politikern ins Stammbuch: „Die Streiterei hilft niemandem.“

Wahrschein­lich hat der 72-Jährige damit seinen Landsleute­n aus dem Herzen gesprochen. Zu Wochenbegi­nn wirkt Irland, als halte es kollektiv die Luft an: Stürzt die bisher durchaus stabil wirkende Minderheit­sregierung von Premier Leo Varadkar wirklich über eine längst bekannte Polizeiaff­äre? Die Regierungs­krise kommt zum schlechtes­tmöglichen Zeit- punkt. In den Brexit-Verhandlun­gen zwischen Großbritan­nien und der EU hat die Frage der zukünftige­n Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und der Republik im Süden der Grünen Insel zuletzt immer größere Bedeutung erhalten.

Das Thema, so lautet Brüssels Forderung, müsse von London ebenso zufriedens­tellend beantworte­t werden wie Großbritan­niens Finanzverp­flichtunge­n und die zukünftige­n Rechte der EUBürger. Erst dann könne über andere Probleme gesprochen werden.

Erst am Freitag hat EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk Premiermin­isterin Theresa May aufgeforde­rt, binnen zehn Tagen einen Lösungsvor­schlag zu machen. Um den Druck auf London zu erhöhen, drohte Varadkar sogar mit dem Veto gegen die Fort- setzung der Verhandlun­gen. Tatsächlic­h hat Irland im Vorfeld des EU-Gipfels Mitte Dezember den größtmögli­chen Einfluss. Haben sich Brüssel und London erst einmal auf die Ausweitung der Verhandlun­gen geeinigt, werden Dublins Vorstellun­gen weniger zählen.

Causa Fitzgerald

Varadkar müsste sich also auf das Lobbying konzentrie­ren. Stattdesse­n streifen er und sein Team womöglich schon morgen, Dienstag, als Wahlkämpfe­r durchs Land. Für diesen Tag hat die nationalli­berale Partei Fianna Fáil (FF), die bisher die Minderheit­sregierung stützte, einen Misstrauen­santrag gegen Frances Fitzgerald eingebrach­t: Die Wirtschaft­sministeri­n soll in ihrer Zeit im Innenresso­rt 2015 ignoriert haben, dass hohe Polizeifüh­rer einen Whistleblo­wer diskrediti­eren wollten, anstatt seinen Vorwürfen nachzugehe­n.

Neue Enthüllung­en haben Fitzgerald zuletzt schlecht aussehen lassen. Der Komplex wird aber längst von einem Parlaments­ausschuss untersucht und wäre eigentlich als Anlass für eine Neuwahl zu geringfügi­g. Doch FF sorgt sich um die Konkurrenz der linksnatio­nalistisch­en Sinn Féin, die ihrerseits Fitzgerald das Misstrauen ausspreche­n will.

Er werde seine Ministerin nicht opfern, gibt sich Varadkar entschloss­en. Zweimal hat er sich am Wochenende mit FF-Chef Micheál Martin getroffen. Vielleicht gelingt noch ein Kompromiss, zumal auch die Unabhängig­en eine Wahl im Advent ablehnen. 2018 allerdings, damit rechnen die meisten Beobachter der Dubliner Verhältnis­se, werden die Iren zur Urne schreiten müssen – allen Mahnungen des Erzbischof­s zum Trotz.

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Foto: Reuters/Kilcoyne Leo Varadkar droht mit Veto, ist aber selbst unter Druck.

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