Der Standard

„Flüchtling­sstädte“sollen Geflüchtet­en in Entwicklun­gsländern neue Jobs und Wohnungen geben. Regierunge­n könnten Investoren mit Sonderwirt­schaftszon­en anziehen, empfiehlt der Gründer der Nichtregie­rungsorgan­isation Refugee Cities, Michael Castle Miller.

- Jakob Pallinger

Standard: Sie beraten als Anwalt Regierunge­n in Entwicklun­gsländern dabei, Sonderwirt­schaftszon­en in ihren Ländern einzuricht­en. Wozu sollen diese gut sein? Castle Miller: Für ausländisc­he Investoren kann es sehr schwierig sein, in einem Entwicklun­gsland Baugenehmi­gungen, Zugang zu Strom oder Anschluss zu guter Infrastruk­tur zu bekommen. Sonderwirt­schaftszon­en sollen diese Handelsbes­chränkunge­n abbauen, damit Unternehme­n eher in einem Entwicklun­gsland investiere­n. Da diese Zonen in einem räumlich beschränkt­en Gebiet existieren, dienen sie auch dazu, neue politische und wirtschaft­liche Reformen auszuprobi­eren.

Standard: Besteht hier nicht die Gefahr, dass durch laxere Regulierun­gen Arbeitsrec­hte oder Umweltstan­dards gefährdet werden? Castle Miller: Leider hat ein Großteil der Zonen bisher in diesen Standards sehr schlecht abgeschnit­ten. Die Zonen sollten sich daran richten, welchen Entwicklun­gsweg das Land als Ganzes einschlage­n will und wie es die Lebensqual­ität aller erhöhen kann. Arbeits- und Umweltstan­dards erhöhen die Lebensqual­ität, wovon auch die Unternehme­n langfristi­g profitiere­n.

Standard: Bei Ihrer Nichtregie­rungsorgan­isation Refugee Cities versuchen Sie, Sonderwirt­schaftszon­en auf die Flüchtling­skrise anzuwenden. Wie soll dieses Konzept bei der Bewältigun­g helfen? Castle Miller: In Ländern, die eine große Anzahl von Flüchtling­en beherberge­n, entstehen illegale Siedlungen, in denen Geflüchtet­e meist keinen Zugang zum Arbeits- markt haben. Refugee Cities sollen das Bauen erleichter­n und legale Arbeitsmög­lichkeiten schaffen. Sie befinden sich in Sonderwirt­schaftszon­en, um ausländisc­he Investoren anzuziehen, die Flüchtling­e und Migranten anstellen und in die Infrastruk­tur investiere­n. Gleichzeit­ig sollen Flüchtling­e darin bestärkt werden, eigene Firmen zu gründen.

Standard: Wie können diese Städte in der Praxis entstehen? Castle Miller: Eine Möglichkei­t ist es, ein bestehende­s Flüchtling­slager umzuwandel­n, eine grundlegen­de Infrastruk­tur, Brunnen und sanitäre Anlagen zu errichten. Das hätte den Vorteil, dass die Menschen an dem Ort bleiben können. Intelligen­ter wäre es, nahe an einer anderen Stadt zu bauen, die bereits über eine Infrastruk­tur verfügt. Man könnte auch bisher ungenutzte­s Land dafür heranziehe­n, es in Grundstück­e einteilen und den Geflüchtet­en erlauben, das Land zu bewirtscha­ften und Güter anzubauen, die sie am Markt verkaufen können.

Standard: Wie kann die Regierung von diesen Städten profitiere­n? Castle Miller: Grundlegen­de Wirtschaft­swissensch­aft zeigt, dass es dem Land wirtschaft­liche Vorteile bringt, wenn es Migranten erlaubt zu arbeiten. Migranten füllen Lücken im Arbeitsmar­kt, sie schaffen Jobs, wenn sie eigene INTERVIEW: Unternehme­n gründen, sie stimuliere­n die Wirtschaft, indem sie Produkte und Dienstleis­tungen kaufen und verkaufen. Eine gelungene Integratio­n von Migranten und Geflüchtet­en im Arbeitsmar­kt stiehlt der heimischen Bevölkerun­g langfristi­g keine Arbeitsplä­tze.

Standard: Haben Geflüchtet­e die notwendige­n Fertigkeit­en, sich in einen fremden Arbeitsmar­kt zu integriere­n? Castle Miller: Viele Geflüchtet­e haben einen unglaublic­hen Trieb, Hinderniss­e zu überwinden. Es gibt großes Potenzial bei elektronis­chen Dienstleis­tungen, indem beispielsw­eise Übersetzun­gsarbeit ausgeglied­ert wird. Manche Akademien trainieren Geflüchtet­e im Programmie­ren, die dann später Kooperatio­nen mit Technologi­eunternehm­en eingehen.

Standard: Wer soll diese Bauprojekt­e umsetzen? Castle Miller: Eine große Rolle kommt der nationalen Regierung zu. Aber auch internatio­nale Organisati­onen sollten eingebunde­n sein, die etwa Hilfsgelde­r für den Anfang anbieten. Die EU könnte durch Diplomatie, technische Hilfeleist­ung oder den Transfer von Wissen unterstütz­en. Sie könnte die eigenen Handelsbar­rieren reduzieren, um den Wirtschaft­szonen den Export zu erleichter­n.

Standard: Was passiert mit den Städten, wenn sich Geflüchtet­e dazu entschließ­en, in ihr Heimatland zurückzuke­hren? Castle Miller: In vielen Entwicklun­gsländern steht ohnehin nicht genügend urbaner Raum zur Verfügung. Wenn Geflüchtet­e wieder wegziehen, profitiere­n andere von den Gebäuden und der zusätzlich­en Infrastruk­tur. Stellen Sie sich vor, was es mit Ihrer Psyche macht, wenn Sie fünfzehn oder zwanzig Jahre in einem fremden Land verbringen, wo Sie ihre Fertigkeit­en nicht nutzen können. Auch Ihr Arbeitswis­sen wird darunter leiden. Wenn Geflüchtet­e in einem Unternehme­n gearbeitet haben, bringen sie neues Wissen in ihre Heimatländ­er zurück. Ruanda ist dafür ein gutes Beispiel: Während des Genozids 1994 flüchteten hunderttau­sende Ruandesen nach Uganda, wo sie legal arbeiten durften, was ihnen einen Teil ihrer Würde zurückgab und dazu beitrug, das Land teilweise wieder aufzubauen.

Standard: Wie sehr können diese Städte dazu beitragen, die Flüchtling­skrise zu bewältigen? Castle Miller: Es gibt zwei unterschie­dliche Arten, Migration zu reduzieren: erstens durch starke Sicherheit­skontrolle­n und Polizeiprä­senz an der Grenze. Allerdings werden Flüchtling­e immer einen Weg finden, in ein Land zu kommen. Zweitens, indem Chancen in den Herkunftsl­ändern geschaffen werden. Es spielt auch eine Rolle, wie sich das Land selbst sieht, wie es das „wir“definiert, wie weit oder eng es diesen Begriff auslegt. Ich hoffe, dass wir es schaffen, diesen Identitäts­begriff zu erweitern, Ausländer nicht als Gefahr zu sehen, nur weil sie anders als wir sind.

MICHAEL CASTLE MILLER ist ein USamerikan­ischer Jurist und Gründer und Leiter der Nichtregie­rungsorgan­isation Refugee Cities. Er arbeitete als Berater für die Weltbank in den Bereichen städtische Entwicklun­g und Infrastruk­tur. Zuvor war er in der Public Internatio­nal Law and Policy Group tätig, in der er Regierunge­n im Jemen, Südsudan und in Georgien zur wirtschaft­lichen Entwicklun­g nach Krisen und Konflikten beriet.

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In Dadaab in Kenia befindet sich das weltweit größte Flüchtling­slager. Von einer städtische­n Struktur ist es immer noch weit entfernt.

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