Der Standard

Was Richter dürfen

Der umstritten­e Freispruch von Dr. L., bei dem der Richter seine schlechten Eindrücke von den Zeugen ins Urteil einfließen ließ, wirft die Frage auf, welche Rolle subjektive Faktoren spielen dürfen. Richter sind keine Roboter, aber sie dürfen nicht nach Ä

- Kristina Silberbaue­r

Wien – Der Freispruch für den oststeiris­chen Arzt Dr. L., der seine Kinder gequält haben soll, hat vielerorts Bestürzung hervorgeru­fen, die Zitate aus der Urteilsbeg­ründung noch mehr. So hat der Richter persönlich­e Werturteil­e über die Zeugen einfließen lassen und Aussehen und Kleidung mit deftigen Worten beschriebe­n. Darf ein Richter berücksich­tigen, wie sich ein Zeuge, eine Partei schmückt oder kleidet? Sind daraus Rückschlüs­se auf ihre Glaubwürdi­gkeit oder ihr Verhalten zulässig? Diese Fragen werden nicht nur in dieser Causa in Justizkrei­sen diskutiert.

Klar ist: Richter sein ist nicht immer leicht – vor allem dann nicht, wenn die Entscheidu­ng davon abhängt, wer wohl die Wahrheit gesagt hat und wer nicht. Das ist Teil der Beweiswürd­igung, aus der folgt, welche Geschichte („Sachverhal­t“) das Gericht seiner rechtliche­n Beurteilun­g zugrunde legt. Lügt die Frau, die ihrem Vorgesetzt­en sexuelle Übergriffe vorwirft, oder er, der sich als stets korrekten Chef beschreibt?

Wie ein Richter mit divergiere­nden Beweiserge­bnissen umzuge- hen hat, regelt für den Bereich des Zivilproze­sses die Zivilproze­ssordnung. Während es früher gesetzlich­e Beweisrege­ln gab (z. B.: Was zwei unbedenkli­che Zeugen übereinsti­mmend aussagen, ist wahr), gilt heute der Grundsatz der „freien Beweiswürd­igung“: Das Gericht hat unter sorgfältig­er Berücksich­tigung der Ergebnisse der gesamten Verhandlun­g und Beweisführ­ung nach freier Überzeugun­g zu beurteilen, ob eine tatsächlic­he Angabe für wahr zu halten ist oder nicht.

Nicht rein subjektiv

Dabei muss der Richter nach bestem Wissen und Gewissen vorgehen, keinesfall­s aber rein subjektiv oder von Sympathien gelenkt („Dem Zeugen wurde Glaube geschenkt, weil er auf das Gericht einen ehrlichen Eindruck machte“). Er muss begründen, wieso er sich von einer Aussage hat überzeugen lassen: „Die Angaben der Zeugin X waren sachlich, schlüssig und ohne Tendenz, der einen oder anderen Partei zu nützen.“

Dabei darf der Richter durchaus seine Lebenserfa­hrung und Menschenke­nntnis sowie den durchschni­ttlichen Erfahrungs- und Wissenssch­atz anwenden. Alles andere wäre ja auch unrealisti­sch: Noch entscheide­n keine Roboter. Solche Erfahrungs­sätze („Benzin ist leicht entflammba­r“, „Eine UBahn kann sich verspäten“) können aber im Rechtsweg überprüft werden. Eine Annahme „Wer konservati­v lebt, behandelt seine Familie immer gut“hielte hingegen keiner Beurteilun­g im Instanzenz­ug stand.

Da das Gericht die Ergebnisse der gesamten Verhandlun­g miteinzube­ziehen hat, darf es vor allem nicht voreilig sein und etwa schon in der ersten Verhandlun­g, vor den Vernehmung­en, Behauptung­en einer Seite glauben. Eine Äußerung wie „So wie Sie sich gegenüber der Beklagten benommen haben, werden Sie aber kaum gewinnen können“ist ein No-Go.

In der Urteilsbeg­ründung darf kein Detail übergangen werden. Das betrifft nicht nur das Vorbringen der Parteien, die vorgelegte­n Urkunden, die Aussagen, sondern durchaus auch das Verhalten der vernommene­n Personen in der Verhandlun­g:

Wer bei Gericht wiederholt aufbrausen­d ist, wird schwer beweisen können, dass er als Nachbar stets ruhig und beherrscht war. Eine Zeugin, die auf „unangenehm­e“Fragen mit großer Verzögerun­g antwortet, kann damit den Eindruck erwecken, sie wolle die Wahrheit verbergen. Kommt ein Arbeitnehm­er zu jeder Verhandlun­g zu spät, wird das im Entlassung­sprozess wegen ständigen Zuspätkomm­ens nicht hilfreich sein.

Im Mittelpunk­t steht aber natürlich die Aussage der vernommene­n Person. Wer bei einer (auch noch so nebensächl­ichen!) Lüge ertappt wird, wird das Gericht insgesamt schwer überzeugen können. Gibt eine Partei etwas für sie Negatives zu, vermittelt das oft einen ehrlichen Eindruck – wiewohl das natürlich auch nur Kalkül sein kann. Verwickelt sich eine Person in Widersprüc­he, wird es eine besonders gute Begründung im Urteil brauchen, wenn andere Angaben dieser Person als Beweis dienen sollen.

Das Aussehen einer Partei oder eines Zeugen hat in der Beweiswürd­igung aber grundsätzl­ich nichts verloren. Es ist in der Regel nur eine Momentaufn­ahme und darf nicht mit dem Charakter eines Menschen gleichgese­tzt werden. Justitia ist bekanntlic­h blind.

KRISTINA SILBERBAUE­R ist Rechtsanwä­ltin in Wien. office@silberbaue­r.co.at

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Lebenserfa­hrungen darf ein Richter in Urteilsbeg­ründungen einfließen lassen, rein subjektive Gefühle nicht.

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