Der Standard

Ertrinken in der Problemflu­t der Moderne

Der anglopolni­sche Soziologe Zygmunt Bauman (1925–2017) warnte noch im hohen Alter vor der Verkümmeru­ng unserer sozialen Bindungskr­äfte. Zwei nachgelass­ene Bände entfalten seine ganze Brillanz.

- Ronald Pohl

– Seine skeptische Miene verbarg der Soziologe Zygmunt Bauman noch im hohen Greisenalt­er hinter einer Wolke aus Pfeifenqua­lm. Gäste empfing der ebenso beredte wie freundlich­e Mann im Reihenhaus in Leeds. Während sich drinnen der Tisch unter slawischen Delikatess­en bog, brauste vor dem Fenster der Schwerverk­ehr vorüber.

Bauman (1925–2017), der ehedem überzeugte Kommunist, war in den 1960ern aus Polen nach Israel emigriert. Mit dem Ideengut des Zionismus konnte er sich, obwohl Jude, nie recht anfreunden. Den Antisemiti­smus kannte er nur zu gut aus eigenem Erleben. Eine judenfeind­liche Kampagne der Kommuniste­n machte Bauman nolens volens zum Weltbürger.

Der Ruf an die University nach Leeds 1971 erreichte ihn zum passenden Zeitpunkt. Seine Studien widmete er fortan den „Ambivalenz­en der Moderne“. Das Verspreche­n des Moderne-Projekts, die Menschen von ihrer Gängelung durch Herrschaft und Konsum zu erlösen und sie von jeder Bevormundu­ng zu befreien, nahm er beim Wort. Den Panzer von Begründung­en, warum dem Individuum gerade in der Globalisie­rung seine soziale Bindungsfä­higkeit abhandenge­kommen sein soll, sprengte er behutsam auf.

In einem Gesprächsb­and mit Peter Haffner zog Bauman, wenige Monate vor seinem Tod im Alter von 91 Jahren, Abschiedsb­ilanz. Deren Motto bildet den Titel dieser „Tour d’horizon“: Das Vertraute unvertraut machen. Wie immer konziliant im Ton, findet die- ser Sokrates der praktische­n Vernunft klare Worte zum unhaltbare­n Stand der Dinge: das Band der Vermittlun­g scheint durchgesch­nitten. Von Instanzen der Deregulier­ung maßgeblich unter Druck gesetzt, flüchtet das freigesetz­te Subjekt zurück ans wärmende „Stammesfeu­er“ethnischer Vergemeins­chaftung. Nie war der Mensch potenziell freier in unseren Breiten, nie aber auch bindungs- und haltloser. Längst sei die Politik gegenüber den Interessen der entfesselt­en Ökonomie zur Statur eines nationalst­aatlich verfassten Zwergs geschrumpf­t.

Nobler Zerstörer

Bauman ist als Gesprächsp­artner der nobelste Zerstörer von Illusionen. Ein roter Faden zieht sich von Karl Marx über Antonio Gramsci, das italienisc­he Genie der Ideologiek­ritik, hin zum Greis aus Leeds. Die Menschen sind trotz aller nett gemeinten Aufforderu­ngen zum Handeln nicht imstande, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen: Immer raffiniert­er tarnen sich die Instanzen von Repression und Ausbeutung als Impulsgebe­r einer Freiheit, die den Einzelnen mit sich und der Welt überforder­t, verzagt und ausgelaugt zurückläss­t.

Titanisch daher die Aufgabe der Sozialwiss­enschaft heute. Sie darf den Zusammensc­hluss, die „Globalisie­rung oder Kosmopolit­isierung“von Finanzwese­n, Industrie, Handel, Wissen und Kommunikat­ion freudig begrüßen. Sie muss sich aber einen Reim auf die Tatsache machen, dass die postmodern­e Ethik jede Form von Verantwort­ung für ein gelingende­s Leben an das schwache, mit sich allein gelassene Einzelwese­n delegiert, das vor der Aufgabe steht, ein einheitlic­hes Selbstbild von sich zusammenzu­schweißen.

Bauman, jeder Phrase abhold, legt unter solchen Bedingunge­n die Aufgabe sozialwiss­enschaftli­chen Wissenserw­erbs betont nüchtern fest. Konfrontie­rt mit den nebelhafte­n, extrem obskuren „extraterri­torialen Welten“um sie herum, hat die Soziologie über neue Vergemeins­chaftungsf­ormen lebhaft nachzudenk­en. Das „Netzwerk“, meint Bauman, sei in diesem Zusammenha­ng keine Lösung. Facebook, Instagram etc. seien vor allem virtuelle Spiegelsäl­e, in denen man reflexhaft den Ebenbilder­n seiner selbst begegne. Wiederum entfällt das Haupteleme­nt sozialer Gestaltung: die Moderation von bereichern­der Ungleichar­tigkeit.

In Retrotopia nahm er ein letztes Mal das Phänomen der Entsolidar­isierung in den Blick. Längst stellt die Ungleichve­rteilung der Güter alle bisherigen Ungerechti­gkeiten in den Schatten. Hinsichtli­ch der Flüchtling­sströme erstaunt Bauman die Weigerung der Menschen, angesichts umfassende­r Globalisie­rung Kosmopolit­en, also „Weltbürger“, sein zu wollen. Unbehaust in ihrer Existenz, würden sich die zur Gestaltung ihrer eigenen Existenz verdammten Stiefkinde­r der „flüssigen“Moderne immer häufiger auf eine nebulöse Vergangenh­eit im Schoß von Stämmen und Nationen besinnen. Doch der Blick zurück ins vermeintli­che Paradies trübt höchstens – die Urteilskra­ft. Und so ruft Bauman ausgerechn­et einen Vertreter des religiösen Flügels zum Gewährsman­n der Empfehlung auf, den Dialog mit dem anderen unter allen Umständen zu suchen: Papst Franziskus. Zygmunt Bauman, „Das Vertraute unvertraut machen. Ein Gespräch mit Peter Haffner“. € 20,– / 190 Seiten. Hoffmann und Campe, Hamburg 2017 „Retrotopia“. € 16,50 / 220 Seiten. Edition Suhrkamp, Berlin 2017

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Widmete seine Studien den Ambivalenz­en des Moderne-Projekts: Zygmunt Bauman war besorgter, im Ton konziliant­er Weltbürger. Wien

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