Der Standard

Profile der Entmutigun­g: Die Époque Trump

Die Verweigeru­ng der Unabhängig­keit der irakischen Kurden war ein moralische­r und politische­r Fehler. Der US-Präsident macht falsch, was man in Nahost falsch machen kann.

- Bernard-Henry Lévy

Einige Experten in den LifeScienc­es sagen, dass niemand je völlig von einer Verletzung oder Erkrankung geheilt wird, weil unsere Zellen für immer Spuren und Erinnerung­en selbst der kleinesten Angriffe auf die Integrität unseres Körpers zurückbeha­lten. So wird das auch mit den Vereinigte­n Staaten sein.

Eines Tages werden die USA die Seite Donald Trump umblättern. Aber die USA werden sich nie völlig von der nicht zu stillenden Wunde erholen, die die Niederträc­htigkeit, stupide Verbohrthe­it und verblüffen­de Passivität seiner Präsidents­chaft angesichts Chinas globaler Ambitionen Amerikas Kultur und internatio­nalem Renommee zugefügt hat. Ist Trump ein Symptom? Oder ist er eine tödliche Krankheit?

Den Demokraten sind Demoralisi­erung und Defätismus nicht erspart geblieben, wie ich kürzlich in New York und bei einem Besuch in Chicago feststellt­e, wo ich einen Vortrag bei einem Seminar des Institute of Politics der Uni- versity of Chicago hielt. Im Apartment des US-Iraners Nazee Moinian in Manhattan, das an die patrizisch­en Wohnungen der Mitglieder des Algonquin Round Table erinnerte, stimmten die versammelt­en Eliten überein: Donald Trump habe, indem er die Kurden nicht in ihrem Versuch unterstütz­t habe, die Unabhängig­keit vom Irak zu erreichen, nicht nur einen moralische­n Fehler, sondern auch einen irreparabl­en poli- tischen Fehler begangen. Er habe seinen kurdischen Verbündete­n verraten und seinen iranischen Gegner gestärkt.

Der deutsche Staatsrech­tler und Politikthe­oretiker Carl Schmitt hätte möglicherw­eise gesagt, dass Trump Freund und Feind verwechsel­t habe und Ersteren behandelt habe, wie er Letzteren hätte behandeln sollen. Unerklärli­cherweise opferte Trump (einmal mehr) ein wichtiges nationales Interesse der USA, diesmal, indem er die einzige Macht in der Nahostregi­on (außerhalb Israels) im Stich ließ, auf die sich Amerika sicher und ernsthaft verlassen konnte.

Wie reagiert man auf einen derartigen Verlust? Mit welchen Ressourcen? Gab es wirklich keine Möglichkei­t, dem Club schlechter Nachbarn, die sich jeder Diskussion über die Souveränit­ät der Kurden verweigern, etwas entgegenzu­setzen?

Einige Demokraten schlucken ihren nationalen Stolz hinunter und sagen, dass Frankreich­s junger Präsident Emmanuel Macron, den Time jüngst zum „König Europas“krönte, in einer besseren Position sei, einzugreif­en und den Irak und den Iran zu bremsen. Ältere Demokraten äußern nicht die leisesten Bedenken über den Einsatz der US-Macht während des Kalten Krieges. Doch wenn der Moment kommt, um ihre Stimme – bloß ihre Stimme! – gegen das böswillige, aber uneinige Quartett zu erheben, das die kurdische Unabhängig­keit blockiert (Iran, Irak, Türkei und Syrien), sind sie völlig gelähmt und untätig.

Beim Temple EmanuEl an der Fifth Avenue, der schönsten Synagoge New Yorks und einer der größten der Welt, wurde ich kürzlich von Pamela Paul interviewt, der Herausgebe­rin des New York Times Book Review. Auch hier wandte sich das Gespräch Macron zu. Ich versuchte zu erklären, dass seine typische Formulieru­ng „en même temps“(zur selben Zeit), die in Amerika tendenziel­l als Ausdruck eines Pragmatism­us amerikanis­chen Stils verstanden wird, stattdesse­n eine der sichtbarst­en Spuren von Macrons weltanscha­ulicher Nähe zu dem protestant­ischen französisc­hen Philosophe­n Paul Ricoeur sein könnte.

„Zur selben Zeit“spiegelt dabei alles andere als die sorgfältig­e Erwägung unklarer Alternativ­en wider, sondern ist das Credo eines Menschen, der angesichts des unauflösba­ren und erschrecke­nden Mysteriums der zweifachen Beschaffen­heit des gequälten Körpers Christi – körperlich und geistig, sterblich und auferstand­en – vor Furcht zittert.

Sehr rasch jedoch kamen wir zur Frage des Antisemiti­smus in Amerika. Einerseits ist er bei jener Horde von Nativisten, weißen Rassisten und Neokonföde­rierten anzutreffe­n, die im August in Charlottes­ville (Virginia) einfielen, um Schwarze und Juden „aufzumisch­en“. Anderersei­ts begegnet man ihm bei den Linken in den Universitä­ten der USA, die sich vom Fieber der Boykottauf­rufe, Desinvesti­tionen und Sanktionen der globalen Kampagne gegen israelisch­e Produkte haben anstecken lassen, die sich immer schwerer von einer mehr oder weniger unverhohle­nen Kampagne gegen einfach nur jüdische Produkte und Unternehme­n abgrenzen lässt.

Die Nazis und „America first“

In diesem Sinne ist zu fragen: Leben wir in der Époque Trump, in der dessen Wiedererwe­ckung des Slogans „America first“der amerikanis­chen Nazis aus den 1930er-Jahren eine Lockerung bigotter Zungen ermutigt hat? Könnte es sein, dass Trump selbst, trotz seiner offiziell proisraeli­schen Positionen, insgeheim ein Antisemit ist?

Die Wahrheit ist, dass die Frage Trump – das Rätsel, das dieser Mann darstellt, und selbst sein Name – viel zu viel Raum in der öffentlich­en Debatte einnimmt. Die Wahrheit ist, dass wir, indem wir uns fragen, ob Trump verrückt ist oder wie ein aufgebläht­er und obszöner Hamlet Verrückthe­it vortäuscht, um seine Gegner zu verwirren, in die Falle eines Narzissmus tappen, der, in den USA, das neue Gesicht des Nihilismus ist. Aus dem Englischen von Jan Doolan Copyright: Project Syndicate

BERNARD-HENRY LÉVY ist einer der Gründer der Bewegung der „Nouveaux Philosophe­s“(neuen Philosophe­n). Zu seinen Büchern gehören „Left in Dark Times: A Stand Against the New Barbarism“, „American Vertigo: Auf der Suche nach der Seele Amerikas“sowie zuletzt „The Genius of Judaism“.

 ??  ?? Die irakischen Kurden stimmten Ende September in einem Referendum über die Unabhängig­keit von Bagdad ab. Das Votum brachte die Zentralreg­ierung auf, ebenso die Türkei und den Iran.
Die irakischen Kurden stimmten Ende September in einem Referendum über die Unabhängig­keit von Bagdad ab. Das Votum brachte die Zentralreg­ierung auf, ebenso die Türkei und den Iran.
 ?? Foto: AFP ?? Bernard-Henry Lévy: Trump und das Gesicht des Nihilismus.
Foto: AFP Bernard-Henry Lévy: Trump und das Gesicht des Nihilismus.

Newspapers in German

Newspapers from Austria