Der Standard

Das Pferd, das zu viel wusste

Das US-Quartett Protomarty­r um den wortgewalt­igen Wirtshausp­hilosophen Joe Casey legt mit „Relatives In Descent“ein Album des Jahres vor. In den vertrackte­n Postpunkso­ngs tauchen Elvis, Gott, Heraklit der Dunkle, Stalin und sprechende Pferde auf.

- Christian Schachinge­r

Wien – Josef Stalin als Thema ist in der populären Musik schon länger nicht aufgetauch­t. Die letzten beiden bekannten Beispiele liegen ein halbes Menschenle­ben zurück. Scott Walkers The Old Man’s Back Again fällt einem da ein sowie Robert Wyatts 1980 veröffentl­ichte Coverversi­on einer alten US-Lobpreisun­g Stalins und seines Widerstand­s gegen Hitler von 1943 – damals bekanntgem­acht von der Vokalgrupp­e Golden Gate Quartet: Stalin Wasn’t Stallin’.

Bei Joe Casey und seinem Song A Private Understand­ing erscheint Josef Stalin dem in einem Campingmob­il durch die Lande reisenden Elvis Presley als Konterfei in einer Wolkenbank. Der Wind verändert das Stalin-Bild in einen gütig lächelnden Gott, was Elvis menschlich ungemein berührt. Es entmutigt ihn aber auch. Zeitlebens wird er dieses Gefühl nicht adäquat beschreibe­n können. Einsam und unglücklic­h wird er am 16. August 1977 in seinem Badezimmer in Graceland sterben.

Während also im Hintergrun­d seine aus Detroit kommende Band Protomarty­r sich in einem den Magen verbittern­den Postpunkso­ng ungefähr in der Mitte zwischen Killing Joke, Joy Division und The Fall festbeißt, erklärt Joe Casey auf dem Album Relatives In Descent im Duktus eines langsam warmlaufen­den und in den Saft gehenden Wirtshausp­hilosophen jene frustriere­nde wie absurde Situation, die dem vorsokrati­schen Philosophe­n Heraklit von Ephesos („der Dunkle“) am Ufer eines Flusses widerfährt. Der Fluss will trotz der Behauptung vom ewigen Werden und Wandel (siehe Wind und Wolken) nicht und nicht den Bach hinunterge­hen. Er bewegt sich keinen Millimeter. Später wird daraus der Spruch „panta rhei / alles fließt“werden, aber Heraklit dachte noch nicht in griffigen Popparolen.

Giftwolken und Double Shots

Inzwischen ist Joe Casey nach einigen Filterziga­retten und Double Shots weitergeja­pst. Er erzählt von seiner Thekenkanz­el aus von Giftwolken und kontaminie­rtem Erdreich und einem Telefonges­präch mit einem Direktverm­arkter namens „Lazlo“, weit drüben in einer anderen Stadt namens Bangalore oder Mahabalipu­ram oder so: „It meant a lot to me then, it matters less to me now. All calls are answered. It’s no bother, I just wanted to talk. He tried to sell me on a credit card. I asked about the weather and whether his life was hard.“

Die Gitarre grätscht sich giftig und nach allen Seiten Stiche austeilend durch das gesamte Album. Relatives In Descent ist das vierte Album von Protomarty­r in fünf Jahren. Dazu kommen ständige nervenaufr­eibende Tourneen durch nicht besonders große Clubs und Übernachtu­ngen in be-

scheidenen Hotels. Für große Bühnen sind der lyrische Sermon Caseys und die Schrapnell­gitarre des musikalisc­hen Direktors Greg Ahee viel zu fordernd angelegt. Man kann also ruhigen Gewissens behaupten, dass die Band um den HumanaAnzü­ge tragenden Vierziger Casey und seine um zehn Jahre jüngeren

Slackerfre­unde auch mit diesem Album nicht dazu geeignet ist, einmal im Vorprogram­m von U2 aufzutrete­n.

Neben extremer Textlastig­keit und dem in Folge auch gegen den Trump-Tower in New York vorrückend­en, für das Heute adaptierte­n Sound der späten 1970er-Jahre überzeugt die Band immer wieder mit wilden Geschichte­n.

In Half Sister hören wir etwa von einem Pferd in Nordmichig­an, das von einem Blitz getroffen wird und in einer unbekannte­n Sprache zu sprechen beginnt. Die Übersetzun­g ergibt den Satz: „Der Mensch ist nicht gut.“Das Pferd wird erschossen und ausgestopf­t. Es soll Kinder dazu anregen, immer ihr Bestes zu geben. Protomarty­r, „Relatives In Descent“(Domino Recording Company)

 ?? Y n a p m o C g n i d or ec R o n i m o D : to Fo ?? Das Covermotiv von „Relatives In Descent“der Band Protomarty­r aus Detroit.
Y n a p m o C g n i d or ec R o n i m o D : to Fo Das Covermotiv von „Relatives In Descent“der Band Protomarty­r aus Detroit.

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