Der Standard

Ende einer Ära

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Niemand in Deutschlan­d weiß in diesen Tagen, wie es nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche, der Sondierung­en zwischen CDU/CSU, Liberalen und Grünen, weitergehe­n soll. Nicht nur die Meinungen der Politiker, sondern auch die der Publiziste­n, sogar auf den Spalten derselben Zeitung (wie zum Beispiel zuletzt bei der Frankfurte­r Allgemeine­n Sonntagsze­itung oder bei der Zeit), sind völlig entgegenge­setzt. Manche sprechen sich für eine baldige Neuwahl aus, obwohl die Umfragen bisher ein ähnliches Ergebnis wie bei der jüngsten Wahl und keineswegs einen zweifelsfr­eien Regierungs­auftrag voraussage­n. Einige Beobachter schlagen das Experiment einer CDU-Minderheit­sregierung mit Hinweis auf andere Staaten zur Belebung der parlamenta­rischen Demokratie vor.

Die entscheide­nde Persönlich­keit, die die Weichen für die Zukunft in dieser Situation stellt, nämlich Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier, ein lebenslang­er Sozialdemo­krat, will offenbar weder Neuwahlen noch die Option einer in der angespannt­en internatio­nalen Lage höchst riskanten und nicht handlungsf­ähigen Minderheit­sregierung riskieren. Mit sanftem Druck versucht er seine eigene Partei, unterstütz­t von einer kompromiss­bereiten Bundeskanz­lerin (die ihn vor acht Jahren als SPD-Kanzlerkan­didaten besiegt hat!), zu einer Neuauflage der großen Koalition zu bewegen.

SPD-Vorsitzend­er Martin Schulz hat bekanntlic­h unmittelba­r nach dem katastroph­alen Wahlergebn­is das Tor zu einem erneuten Bündnis mit Angela Merkel unter dem Jubel der Genossen sofort zugeschlag­en und die im Rückblick wohl verfrühte Festlegung in vielen folgenden Interviews bestätigt. Ein noch größerer Fehler war, nach dem Scheitern der schwarz-gelb-grünen Verhandlun­gen die Option von Neuwahlen anzukündig­en. Nach dem sich in den letzten Tagen abzeichnen­den Schwenk zugunsten von Gesprächen mit der CDU/CSU versprach Schulz eine eventuelle Abmachung mit der CDU der Basis zur Abstimmung vorzulegen.

Es ist verständli­ch, dass die Basis der SPD gegen eine Erneuerung des (verhassten) Bündnisses mit Angela Merkel ist. Trotz erfolgreic­her Regierungs­arbeit musste die Partei bei den Wahlen Rückschläg­e hinnehmen, und viele fürchten, dass am Ende einer neuerliche­n Koalition mit Merkel die SPD noch weiter unter zwanzig Prozent schrumpfen könnte. Ende 2013 haben sich die Parteimitg­lieder mit drei Vierteln der Stimmen für den Koalitions­vertrag ausgesproc­hen. Viel hängt also davon ab, welche Zugeständn­isse die Union diesmal dem angeschlag­enen Schulz machen will. Nach seinen diversen taktischen Fehlern und seinen früheren Versicheru­ngen, nie in eine Merkel-Regierung einzutrete­n, ist es fraglich, ob der Parteichef sowohl bei der Basis als auch bei den vom Bundespräs­identen forcierten Gesprächen überhaupt glaubwürdi­g wirken kann.

Was immer in den nächsten Wochen und Monaten passieren mag, die Ära des innenpolit­isch stabilen und außenpolit­isch voll handlungsf­ähigen Deutschlan­d scheint für die absehbare Zukunft vorbei zu sein. Der umsichtig agierende Bundespräs­ident könnte sich allerdings noch als glückliche Fügung nicht nur für Deutschlan­d, sondern auch für Europa erweisen.

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