Der Standard

Dunkler Schatten über Österreich

Es ist bedauerlic­h, dass die „braune Gefahr“in Europa nicht als solche erkannt wird

- Tamás Beck TAMÁS BECK (43) ist ungarische­r Schriftste­ller und Publizist, er wurde mit dem Petri-Preis für ungarische Lyrik ausgezeich­net. Dieser Text ist unlängst in der Budapester Zeitung „Népszava“erschienen.

Mitteleuro­pa ist ein einziges, großes Dorf!“– schreit Klaus Maria Brandauer als Oberst Redl in István Szabós berühmtem, gleichnami­gem Film. Das anzuzweife­ln dürfte schwerfall­en. Die auf den Ruinen der ehemaligen K.-u.-k.-Monarchie entstanden­en Nationalst­aaten unterschei­den sich weder in der Mentalität noch in der politische­n Kultur wesentlich voneinande­r.

Der beste Beweis dafür: Die Prophezeiu­ng Viktor Orbáns, wonach 2017 das Jahr der Revolte sein wird, ist lediglich auf einer Hälfte des Kontinents in Erfüllung gegangen. Autokratis­che Tendenzen verbreitet­en sich in Europa lediglich auf dem Gebiet des ehemaligen Ostblocks. Österreich dagegen befand sich auf der anderen Seite des ehemaligen Eisernen Vorhangs.

Es ist alarmieren­d, dass die führenden Politiker der Europäisch­en Union den möglichen Eintritt der Freiheitli­chen Partei Österreich­s (FPÖ) in die neue österreich­ische Regierung nicht mehr als „braune Gefahr“erkennen.

Achtzehn Jahre ist es her, dass der Versuch von Wolfgang Schüssel (ÖVP), mit der FPÖ eine Regierungs­koalition zu bilden, in den Hauptstädt­en Europas eine nie dagewesene Protestwel­le ausgelöst hat. In der EU wurde Österreich damals unter Quarantäne gestellt, und gar die USA hatten ihren Bot- schafter aus Wien zwecks Konsultati­on zurückbeor­dert.

Das Unbehagen der westlichen Demokratie­n ist wegen des wahrschein­lichen Eintritts der rechtsextr­emen Partei in die Wiener Regierung auch gegenwärti­g spürbar. Dennoch wird sich Brüssel angesichts durchgreif­ender Veränderun­g des politische­n Klimas diesmal vor einem spektakulä­ren Protest hüten. Die maßgeblich­en, demokratis­chen Kräfte halten zwar den Atem an, begnügen sich aber noch damit, abzuwarten, ob es Sebastian Kurz gelingt, die FPÖ zu domestizie­ren.

Das dunkelste Kapitel

Österreich­s gegenwärti­ger Rechtsruck ruft das dunkelste Kapitel der Alpenrepub­lik in Erinnerung; selbst wenn die nächste durch die FPÖ dominierte Legislatur­periode mit dem sogenannte­n Austrofasc­hismus der Dreißigerj­ahre nicht ohne weiteres vergleichb­ar sein wird. Dollfuß hatte nämlich damals mit der Sozialdemo­kratie und dem Parlamenta­rismus schonungsl­os abgerechne­t. Wichtigste­r Bestandtei­l der Ideologie seines autoritäre­n Regimes war der fundamenta­le, auch von Antisemiti­smus nicht freie Katholizis­mus.

Die mit der FPÖ kokettiere­nde ÖVP verdankt ihren gegenwärti­gen Erfolg der fremdenfei­ndlichen Rhetorik, die sie vom zukünftige­n Koalitions­partner übernommen hat.

Des Öfteren tritt die Rechtsextr­eme auch bei unserem westlichen Nachbarn geradezu als Beschützer­in der jüdischen Gemeinscha­ft vor den Muslimen auf. Und viele fallen auf diesen glatten Schwindel auch noch herein. Das Synonym für den verhassten „Fremden“war in der Dollfuß-Ära unter anderem der Israelit, jetzt ist es der Muslim. Ob in einem bestimmten Staat die Freiheitsr­echte beachtet werden, lässt sich am besten bei der Behandlung seiner Minderheit­en beurteilen.

Die Lehre aus der Vernunfteh­e zwischen ÖVP und FPÖ ist, dass nicht nur die ungarische, sondern auch die österreich­ische Gesellscha­ft der Selbstprüf­ung bedarf.

Mit maßlosem Zynismus lässt das Orbán-Regime heutzutage den im ungarische­n Holocaust verstrickt­en Miklós Horthy (Staatsober­haupt des Königreich­es Ungarn 1920–1944) als schutzlose­s Opfer der Nazis in den Jahren 1943/44 bei der Besetzung Ungarns erscheinen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass manche auch in Wien der Meinung sind, der Anschluss von 1938 an Nazideutsc­hland berechtige sie zum schuldhaft­en Vergessen.

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