Der Standard

Wie man den moralische­n Muskel trainiert

FH-Professor Markus Scholz ist europäisch­er Wegbereite­r des US-amerikanis­chen Wirtschaft­sethik-Ansatzes „Giving Voice to Value“

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Wien – Der junge Mitarbeite­r ist erst einige Monate im Unternehme­n. Er hat sich gut eingearbei­tet, alles läuft großartig. Doch dann beobachtet er zufällig ein Ereignis, das ihm zu denken gibt. Die Tür zum Büro des Chefs ist offen, seine Sekretärin bei ihm. Man hört nicht, was die beiden reden, ihm fällt aber die defensive Haltung der Frau auf. Der Chef scheint sie zu bedrängen. Er fasst sie schließlic­h sogar an. Sie verlässt das Büro beschämt und mit schnellen Schritten.

Der junge Mitarbeite­r ist schockiert. Was tun? Soll er seinen Chef konfrontie­ren? Seiner künftigen Karriere im Unternehme­n könnte er damit nachhaltig Schaden zufügen. Er entscheide­t, erst einmal abzuwarten. Schließlic­h unternimmt er gar nichts, um nicht negativ aufzufalle­n.

Für Markus Scholz, Leiter des Competence Center for Corporate Governance and Business Ethics der Fachhochsc­hule Wien der WKW, ist das ein häufiges Muster: „Mitarbeite­r sind oft mit Situatio- nen konfrontie­rt, die ihren Werten widersprec­hen. Doch dann auch in Übereinsti­mmung mit den Werten zu agieren ist viel einfacher gesagt als getan.“

Scholz ist seit kurzem EuropaBots­chafter eines neuen, in der USA entwickelt­en Ansatzes im Bereich der Wirtschaft­sethik. Mary C. Gentile, Professori­n an der Darden School of Business an der University of Virginia, hat mit „Giving Voice to Value“(GVV) einen Programm geschaffen, das Menschen in berufliche­n Kontexten ein moralische­s Handeln erleichter­n soll.

Für Scholz ist GVV, das bereits an hundert Institutio­nen unterricht­et wird, das „prominente­ste Ethical-Leadership-Programm der Welt“: Die Beraterfir­ma McKinsey, der Gebrauchsg­üterkonzer­n Unilever oder der Medienries­e Bertelsman­n setzten GVV bereits ein. Sogar das US-Verteidigu­ngsministe­rium habe im Pentagon den Ansatz adaptiert.

„Bei GVV geht es nicht darum, jemanden überreden zu wollen, moralische­r zu werden“, stellt Scholz klar. Die Menschen hätten durchaus moralische Überzeugun­gen. Im berufliche­n Umfeld können sie ihnen aber nicht immer gerecht werden. „Es geht darum, den Menschen die Möglichkei­t zu geben, gemäß ihren vor- handenen Werten zu handeln, zu arbeiten und zu leben.“

Scholz diskutiert in Lehrverans­taltungen oder auf Einladung in Unternehme­n Fallbeispi­ele mit Mitarbeite­rn oder Studierend­en: Sexuelle Belästigun­g am Arbeitspla­tz, Konflikte rund um religiöse Überzeugun­gen oder der Umgang mit Unternehme­nsressourc­en werden besprochen. „Ein erster Schritt ist, den Handelsspi­elraum in einer solchen Situation zu bestimmen“, erklärt Scholz. „Direkte Konfrontat­ion ist eine Option, aber meistens der schlechtes­te, weil karrieresc­hädigende Weg.“

In vielen Fällen teilt man den Wertekompa­ss aber mit Kollegen: Man könne gegebenenf­alls gemeinsam Maßnahmen ergreifen, auf indirektem Weg Probleme ansprechen und so die Unternehme­nskultur positiv beeinfluss­en. „Das Dilemma ist oft nur scheinbar“, betont Scholz.

Eine Handlung sollte jedenfalls zeitnah erfolgen. Wer zögert und nach dem Grundsatz „Wenn ich erste einmal selbst Chef bin, ma- che ich alles ganz anders“die Bereinigun­g eines Missstands in die Zukunft verschiebt, verändert sich das, was man als normal hinnimmt, erklärt der Wirtschaft­sethiker. „Im Bereich der Korruption ist es ähnlich: Am Anfang ist es vielleicht nur eine Essenseinl­adung, nicht der Geldumschl­ag. Aber der Referenzra­hmen verändert sich damit. Der neue Ausgangspu­nkt ist nicht mehr so korrekt wie der ursprüngli­che.“

Man müsse sich zudem bewusst werden, dass auch eine ausbleiben­de Reaktion seine Kosten hat: Unternimmt man nichts gegen eine Ungerechti­gkeit, muss man damit leben können und seine eigene Verfehlung in Kauf nehmen, erläutert der Fachhochsc­hulprofess­or. „Ein wesentlich­er Gedanke aus Mary Gentiles Konzept ist, dass man den moralische­n Muskel genauso trainieren muss wie jeden anderen Muskel auch. Wer oft über seine Handlungss­pielräume nachdenkt, kann bei Problemen besser eine gute Reaktion abrufen.“(pum)

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Foto: FH Wien der WKW Wirtschaft­sethiker Markus Scholz erforscht moralische­s Handeln.

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