Der Standard

„Wir täuschen uns oft darin, was wir wollen“

Wie soll man leben? Trotz vieler gesellscha­ftlicher Zwänge, vom Konsum bis zur Fitness, müssen wir uns diese Frage stellen, sagt Beate Rössler. Die Philosophi­n über autonomes Handeln und das sinnvolle Leben.

- Beate Hausbichle­r

INTERVIEW: Standard: Wann wurde in Geschichte der Philosophi­e Thema Autonomie wichtig? Rössler: Die Idee der individuel­len Autonomie gibt es im Grunde erst seit dem 18. Jahrhunder­t, seit Immanuel Kant. Er verbindet die Moral mit dem Begriff der Autonomie. Das hat etwas sehr Aufkläreri­sches, weil es sich gegen die Idee wendet, dass wir moralische­n Gesetzen deshalb folgen müssen, weil sie von Gott gegeben seien. Kants kategorisc­her Imperativ ist der Inbegriff der Idee, dass wir uns das moralische Gesetz selbst geben. der das

Standard: Welche Bedeutung hat der Begriff Autonomie in der Philosophi­e heute? Rössler: Seit den späten 1960erJahr­en drehen sich Debatten um Autonomie um die Frage, was persönlich­e Autonomie ist. Und diese persönlich­e Autonomie wird nicht mehr an die Idee von moralische­r Autonomie gebunden, wir können demnach auch autonom sein, ohne moralisch zu sein. Der Begriff persönlich­er Autonomie ist also breiter und umfassende­r als der kantische.

Standard: Sie beschreibe­n in Ihrer Theorie Kriterien eines gelungenen Lebens. Wie kann man diese philosophi­sch ermitteln? Rössler: Ich versuche zuerst einen allgemeine­n Begriff von Autonomie zu entwickeln, um in einem nächsten Schritt zu schauen, wie sich dieser in konkreten gesellscha­ftlichen, sozialen oder individuel­len Kontexten realisiert. Ein autonomes Leben ist jedenfalls ein Leben, in dem man darüber nachgedach­t hat oder nachdenken konnte, wie man leben will, welche Werte einem wichtig sind. Das ist die Grundfrage der Autonomie: Wie will ich leben? Diese Frage ist anders als die kantische Frage nach den Pflichten, die wir haben, und knüpft an die antike Ethik an und deren Frage nach dem guten Leben. Doch sie kann in der Moderne nicht mehr beantworte­t werden ohne den Rekurs auf individuel­le Autonomie – auch deshalb, weil wir nur ein Leben sinnvoll finden können, das wirklich unser eigenes Leben ist.

Standard: Es ist schon schwer zu beurteilen, ob man selbst autonom handelt. Noch schwerer ist es, dieses Urteil für andere zu fällen. Einen Vollschlei­er zu tragen ist für viele als freie Entscheidu­ng undenkbar. Können wir so etwas beurteilen? Rössler: Man kann natürlich allgemeine Kriterien für ein autonomes Leben entwickeln, die allerdings immer schon mit unseren konkreten sozialen Realitäten rechnen müssen. Ich halte es in unseren liberal-demokratis­chen Gesellscha­ften für völlig plausibel, dass eine Frau sich autonom entscheide­n kann, eine Burka – und natürlich sowieso ein Kopftuch – zu tragen. Natürlich gibt es totalitäre Gesellscha­ften, die es praktisch unmöglich machen, dass Personen autonom leben. Doch für alle anderen Gesellscha­ften muss man sich die Frage stellen, was genau die Bedingunge­n sind, unter denen Autonomie möglich ist. Dabei kommt man meistens auf ideale Antworten: Perfekte Bedingunge­n für Autonomien wären solche, in denen wir alle in der Gesellscha­ft anerkannt sind, wo wir Gleichheit als Wert internalis­iert haben. Aber wir leben nicht unter idealen Bedingunge­n, und deshalb müssen wir uns unter diesen erschwerte­n Bedingunge­n genau ansehen, was im täglichen Leben Autonomie bedeuten kann.

Standard: Was ist mit unsichtbar­en Zwängen? Rössler: Unsichtbar­e oder jedenfalls nicht direkt sichtbare Zwänge oder Einschränk­ungen sind solche, die diskrimini­erende Strukturen betreffen. Aber auch der Konsumismu­s unserer Gesellscha­ft gehört dazu. Es ist wichtig, zu überlegen, welche Strukturen in unserer Gesellscha­ft verhindern, ein autonomes Leben zu führen. Das ist eine politische Frage, in der es um die Kritik von Gesellscha­ften geht, zum Beispiel um die Tatsache, dass wir permanent mit Werbung konfrontie­rt sind – diese Dinge schränken unsere Selbstbest­immung ein, sie manipulier­en uns, vor allem die Werbung in der digitalen Welt. Wir müssen gegenüber solchen manipulati­ven Strukturen extrem sensibel sein und sie kritisiere­n. Aber trotzdem müssen und können wir innerhalb dieser Strukturen versuchen, ein autonomes Leben zu führen.

Standard: Es gibt Lebensmode­lle, die mehr gebilligt werden als andere. Singles kann etwa die Entscheidu­ng schwerfall­en, ob sie wirklich in einer Beziehung leben wollen oder nicht, wenn ihnen ihr Singledase­in ständig als Problem präsentier­t wird. Wie kann man also selbstbest­immt über die eigene Lebenssitu­ation nachdenken? Rössler: Es gibt verletzbar­ere Positionen, in denen man sensibler gegenüber der Durchsetzu­ng traditione­ller Normen ist. Die einzige Hilfe, die es gibt, ist, sich davon zu befreien – mit anderen zusammen. Soziale Konvention­en haben immer diese Doppelseit­igkeit: Sie engen uns ein, geben uns aber anderersei­ts auch Freiräume. „Single“ist zum Beispiel ein Begriff, den es noch gar nicht so lange gibt. Es ist ja auch ein Freiheitsg­ewinn, sagen zu können: Ich bin Single. In den 1960er-Jahren wäre das noch unmöglich gewesen, da wäre man negativ als unverheira­tet bezeichnet worden. Man muss also genau hinschauen, was sind Konvention­en, von denen man sich relativ einfach befreien kann, und welche Konvention­en schränken extrem ein. Und ganz allein kann man sich ohnehin immer nur schwer von solchen Beschränku­ngen befreien.

Standard: Braucht man bestimmte Ressourcen, um darüber zu reflektier­en? Zeit, Geld oder Bildung? Rössler: Ich finde es immer etwas problemati­sch, zu sagen: „Sie können ja leicht über Autonomie reden“, aber der gemeine Mann oder die gemeine Frau wüsste ja gar nicht, was ein autonomes Leben ist. Das halte ich für Unsinn. Ich glaube, alle Menschen denken irgendwann darüber nach, ob das Leben, das sie leben, das Leben ist, das sie leben wollen. Es hilft, Filme zu sehen, Romane zu lesen, es hilft vor allem, mit anderen zu reden. Das sind natürlich auch Privilegie­n, denn man muss lernen, Romane zu lesen und sie als Quel- le von möglichen Lebensform­en zu begreifen. Aber es ist ja nicht so, dass nur die Elite Romane liest oder Filme schaut und dass man nicht auch aus anderen Erfahrunge­n lernen kann. Man braucht im Grunde menschlich­e Ressourcen wie Nachdenken, Reden und vielleicht auch eine gewisse Selbstdisz­iplin.

Standard: Apropos Selbstdisz­iplin: Die Frage nach der richtigen Gestaltung des eigenen Lebens lagern manche in Technologi­en aus. Zum Beispiel Apps, die eine genaue Selbstbeob­achtung anbieten, etwa um regelmäßig Sport zu treiben. Rössler: Das ist ein interessan­tes Phänomen. Wenn ich mehr Sport machen will und durch fehlende Motivation immer daran gehindert werde morgens zu joggen, dann kann diese Selbstbeob­achtung durchaus helfen, in eine Sportrouti­ne reinzukomm­en. Aber das pure Messen darf man mit der Idee von Selbstbest­immung nicht verwechsel­n. Denn ich muss ja trotzdem noch nachdenken, etwa ob ich überhaupt so obsessiv meinen sportliche­n Leistungen gegenüber sein will. Die Verwechslu­ng des Messens von Leistungen mit den eigenen Gründen, den Leistungen folgen zu wollen, das halte ich für schwierig. Diese sogenannte Quantified-SelfBewegu­ng macht diesen Fehler bestimmt. Selbsterke­nntnis durch Zahlen ist auch ihr Motto.

Standard: Aber wie weiß ich denn, ob ich aus einer inneren Motivation heraus laufen will oder nur stets präsenten gesellscha­ftlichen Empfehlung­en folge? Rössler: Es gibt keine ideale Antwort auf die Frage, wann ich weiß, ob mein Leben selbstbest­immt ist. Schon deswegen, weil wir uns oft selber täuschen darin, was wir können und was wir wollen. Wir müssen immer wieder prüfen, ob das eigentlich das Leben ist, das wir wollen. Wir tun das natürlich nicht täglich, aber wir tun es zum Beispiel dann, wenn es zu bestimmten Entfremdun­gserfahrun­gen kommt. Wenn Sie etwa sagen, um beim Beispiel Joggen zu bleiben, „Dieses Laufen verselbsts­tändigt sich, will ich es eigentlich wirklich selbst?“, dann klingt das schon nach Entfremdun­g. Wenn man merkt, da ist so eine Quelle der Unruhe oder Entfremdun­g, dann sollte man dieser Quelle nachgehen.

Standard: Es geht also nicht immer um große Lebensents­cheidungen? Rössler: Nein, deshalb mag ich die Philosophi­n Iris Murdoch so. Sie beschreibt sehr gut, dass wir nie völlig frei sind bei unseren Entscheidu­ngen und Handlungen, sondern dass wir immer schon in ganz bestimmten sozialen Kontexten, immer schon im Leben stecken. Natürlich kann man das eigene Leben auch prinzipiel­l infrage stellen – ist das der Beruf, den ich ausüben will, die Partnerin, mit der ich leben will? Aber neben diesen sehr existenzie­llen Problemen stellt sich die Frage, wie man leben will, auch in viel alltäglich­eren Situatione­n und verlangt auch dann von uns, dass wir uns halbwegs selbstbest­immt verhalten.

BEATE RÖSSLER (geb. 1958) ist Professori­n für Philosophi­e an der Universitä­t Amsterdam.

Beate Rössler, „Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben“. € 30,80 / 442 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2017

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Technologi­en wie Apps sollen dabei helfen, das gesunde Leben zu führen, das man sich wünscht. Doch das pure Messen, wie oft und wie lange man Sport treibt, kann nicht die Frage ersetzen, ob man überhaupt so viel Sport treiben will, sagt Beate Rössler.
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Foto: Jürgen Bauer „Alle Menschen denken über das richtige Leben nach.“
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