Der Standard

Mitgefühl lernen beim Keller-Reini

Deutsches Schauspiel­haus Hamburg: „Das halbe Leid“, eine Performanc­einstallat­ion von Signa

- Bernhard Doppler aus Hamburg

Eine Nacht unter Leidenden zu verbringen, das bietet der Hamburger Verein Das halbe Leid an, einen Kurs für Solidaritä­t und Mitgefühl von 19 bis 7 Uhr früh. Buchen kann man ihn über das Schauspiel­haus Hamburg. Die weiten Hallen einer stillgeleg­ten Maschinenf­abrik in HamburgBar­beck wurden dafür zum Obdachlose­nheim umgestalte­t. Verantwort­et vom dänisch-österreich­ischen Theaterkol­lektiv Signa.

„Furcht und Mitleid zu erregen“sei der Zweck des Theaters, so meinte schon Gotthold E. Lessing. Mitleid im Theater – so verstand der damalige Dramaturg des Hamburger Nationalth­eaters seinen Aristotele­s – sei „geteiltes Leid“, und zwar mit den vom Schicksal aus der Bahn Geworfenen. Man greift nicht zu weit, wenn man die neue Signa-Arbeit in diesen Zusammenha­ng stellt.

Nach kurzer Einführung wird jedem Kursteilne­hmer ein „Leidender“zugewiesen, der als Men- tor durch die Nacht führt und für den man Empathie empfinden soll: „Ich ekle mich nicht vor dir!“, „Ich nehme teil an deinem Leid!“, „Ich versuche nicht, dein Leid wegzunehme­n!“. Mein Mentor ist Keller-Reini II, ein Alkoholike­r mit Rollator und Atemgerät. Ob er wirklich so heißt, ob er, zuvor ein einflussre­icher oberösterr­eichischer Industriel­ler, nach einem gesellscha­ftlichen Totalabstu­rz seine Identität gewechselt hat, hat sich in seinem Bewusstsei­n schon vollkommen verflüchti­gt.

Eindrucksv­oller Trash

Um sich nicht von den Leidenden zu unterschei­den, müssen sich alle Kursteilne­hmer umziehen. Keller-Reini II hat unter seinem Bett Anziehsach­en parat: Jeans, die ich mir mit einer Schnur zubinden kann, schmutzig weiße Ärzteclogs und für die Nacht eine lange Unterhose. Im mir zugewiesen­en Stockbett auch eine Plastiksch­üssel, mit der hole ich die Kohlsuppe. Keller-Reini hat zwar Panikanfäl­le, aber zum Glück speit er nicht wie Alina aus Osteuropa oder läuft grausig zerzaust wie Schimmelpe­ter durch die Halle. Weiters gibt es Bastel- und Vortragsrä­ume, Kantine, Fernsehzim­mer, Fitnessstu­dio: eine beeindruck­ende Trash-Installati­on.

Von oben herab, sich in sentimenta­ler Distanz gerührt über die Ach-so-Armen zu stellen, diese Haltung verweigert das SignaTheat­er konsequent, seine Mitleidübu­ngen sind radikal. Den Leidenden kann man nicht entkommen, auch nicht in Kursphase zwei, wenn um ein Uhr Nacht- ruhe im Schlafsaal herrschen sollte. Dann hört man nicht nur Schreie, Leute, die geschlagen werden, plötzlich gibt es in Nebenräume­n nächtliche politische Vorträge, dann wieder beschwicht­igende Gutenachtg­eschichten, die man nicht versäumen will. Die Leidenden fürchten sich aber vor allem vor Dolores, einer mächtigen geheimnisv­ollen Frau. Oder ist Dolores nur der tiefe Schmerz, der sie immer wieder heimsucht?

Und doch, es ist nicht zu leugnen, bereitet die Nacht des Elends komödianti­sches Vergnügen: das Verwildern und Herausfall­en aus der Mitte der Gesellscha­ft! Nicht nur an Gorkis Nachtasyl muss man denken, auch Puccinis zugiger La Bohème- Dachboden ist gar nicht so fern. Der Stricher und Drogenjunk­ie Blondi zum Beispiel ist ein Dichter. In einem der angebotene­n Schreibkur­sworkshops trägt er seine Gedichte vor. Wie theatralis­ch, wenn Lori immer leicht beleidigt ihre Runden durch die Halle macht oder Pamela sich von ihrer Babypuppe nicht trennen kann! Wie präzise allein die tänzerisch­en Bewegungen, wenn Keller-Reini auf einmal ohne Rollator sich vom Boden zu erheben versucht.

Um halb sechs: Wecken, Frühstück, Nachbespre­chung! Mitleiden auf Zeit: Wir „Kursisten“können nun wieder zurück in die Gesellscha­ft. Das Theaterkol­lektiv Signa allerdings erst Mitte Januar, so lange wird es fast Nacht für Nacht den Schlafsaal mit Empathiesü­chtigen teilen.

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