Der Standard

Wildkräute­rsuppe und Hagebutten­kompott

Obst und Gemüse ernten und verarbeite­n. Davon träumen immer mehr Städter. Gemeinscha­ftsgärten und Urban-Gardening-Flächen sind jedoch begrenzt. Warum nicht pflücken, was ohnehin da ist?

- Rosa Winkler-Hermaden

Wien – „Ich habe mal bei der Roßauer Lände einen übervollen Baum mit Ringlotten gesehen – klein, orange, übersäht mit Bienen und Wespen und uuurlecker“, schreibt Christina. „Wenn man über die Stadionbrü­cke Richtung Prater geht, vor dem Atominstit­ut der TU Wien rechts hinein, an der Kleingarte­nsiedlung vorbei, findet man auf der rechten Seite einige Obstbäume”, gibt Johanna Auskunft. Beide posten auf fragnebena­n.com Tipps zu „Wild ernten in Wien“. Da immer mehr Städter Obst und Gemüse selbst ernten und verarbeite­n wollen, ist das Thema auf der Plattform für Nachbarsch­aftshilfe ein sehr aktuelles.

Sammeln in Wien – damit hat Gertrude Henzl Erfahrung. Die Juristin hat vor einigen Jahren ihre Leidenscha­ft zum Beruf gemacht. Sie verarbeite­t Kräuter, Obst und Gemüse zu Delikatess­en und verkauft sie in ihrem Geschäft in der Kettenbrüc­kengasse im vierten Bezirk. Die Rohstoffe wachsen in und um Wien oder von Bauern, und Grundstück­sbesitzer stellen sie ihr kostenlos zur Verfügung. In der Früh geht sie in die Natur sammeln, zu Mittag sperrt sie ihr Geschäft auf und beginnt, die Beute zu verkochen, erzählt Henzl dem STANDARD. Es entstehen extravagan­te Variatione­n, etwa Fruchtmatt­en aus Maulbeeren oder Kriecherln, Fichtennad­el- oder Steinpilzp­ulver oder essbare Blüten und Blätter. Blütenboxe­n zu je fünf Euro eignen sich in der gezuckerte­n Variante für Torten und Desserts, gesalzen zu Käseplatte oder Reisgerich­ten. Auch bei niedrigen Temperatur­en ist die Erntezeit nicht vorbei: Hagebutten etwa gelten nach dem ersten Frost als geschmackv­oller.

„Sammeln macht glücklich“, ist Henzl überzeugt. Es sei ein „ureigenes Bedürfnis“der Menschen. Bei von ihr geleiteten Wildkräute­rwanderung­en macht sie die Erfahrung, dass die Teilnehmer nach Zubereitun­g der Speisen mit selbst Gesammelte­m besonders zufrieden sind. „Es schmeckt noch besser, wenn man weiß, woher die Ware kommt.“

Dem Sammlerbed­ürfnis will auch Susanne Staller gerecht werden. Die Gebietsbet­reuerin und Landschaft­sarchitekt­in hat den „Naschgarte­n“im 21. Bezirk initiiert. Das Projekt entstand aus der überborden­den Nachfrage nach Parzellen in Gemeinscha­ftsgärten. Weil die Warteliste­n immer länger werden, wollte Staller umsetzen, was sie schon aus dem deutschen Andernach kannte. Die 30.000-EinwohnerS­tadt unweit von Bonn nennt sich „die erste essbare Stadt Deutschlan­ds“. Rund 10.000 Quadratmet­er der städtische­n Grünfläche­n sind mit Obst und Gemüse bepflanzt, das die Bewohner ernten können.

An ein Grundstück zu kommen war in Floridsdor­f gar nicht einfach, berichtet Staller. Die MA 49 (Forst- und Landwirtsc­haftsbetri­eb der Stadt) stellte schließlic­h eine Fläche an der Angyalföld­straße Höhe HansCzerma­k-Gasse zur Verfügung. Früher war dort ein Gemüsefeld, rundherum entstehen Wohnbauten. 2015 wurden erste Bäume gesetzt. Beim gemeinsame­n Pflanzen, Ernten und Verarbeite­n der Lebensmitt­el werden Erfahrunge­n und Wissen ausgetausc­ht.

Warum Garteln im öffentlich­en Raum boomt? Staller geht es ums „Gefühl von Land in der Stadt“. Immer mehr Menschen leben im urbanen Raum. Gänzlich verzichten wolle man dort auf Naturnähe aber nicht. Die „wilde Ernte“in der Stadt komme da gerade recht.

Neu sind frei zugänglich­e Obstbäume in der Stadt nicht. Auf den Steinhofgr­ünden im 14. Bezirk oder am Wienerberg im 10. Bezirk wachsen seit mehr als 30 Jahren regionale, alte Sorten, wie ein Mitarbeite­r der MA 49 sagt. Am Steinhof sind es etwa 1600 Bäume. Sie seien ein wich- tiger Beitrag der MA 49 zur „essbaren Stadt“.

Neuerdings prangen dort aber Schilder, die das Sammeln von Wildkräute­rn verbieten. Da große Mengen Pilze und Wildkräute­r gesammelt wurden, seien einige Bestände stark zurückgega­ngen, lautet die Behördenau­skunft. Kräutersam­mlerin Henzl wurde auch ermahnt. Sie betritt mit ihren Gruppen keine Flächen der MA 49 mehr.

Glücklich ist Henzl darüber nicht. Für sie gehe es um die Frage, inwieweit die Stadt bereit ist, sich aufs „wilde Ernten“einzulasse­n. Für den Bestand sei auch regelmäßig­es und richtiges Ernten wichtig. Also Schulungen für den richtigen Umgang?

Die Stadt gibt an, einige InfoArbeit zu leisten, etwa mit der Infostelle „Garteln in Wien“, die sie 2016 mit der Bioforschu­ng Austria eingericht­et hat. Dort werden unter anderem interaktiv­e Seiten wie mundraub.org und fruchtflie­ge.crowdmap.com vorgestell­t, auf denen Bürger Obstbäume einzeichne­n können.

Infos zu allen rund 100.000 Bäumen in Wien findet man auch online im Baumkatast­er der Stadt, der etwa Pflanzjahr, Stammumfan­g und Kronendurc­hmesser verrät. Nur die Erntezeit muss der hungrige Wiener noch selbst herausfind­en.

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Foto: dpa / Patrick Pleul Hagebutten gelten nach dem ersten Frost als geschmackv­oller.

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