Der Standard

Mit „Dark“deutsches Erzähl-Neuland betreten

Die erste komplett in Deutschlan­d produziert­e Serie des Streamingd­ienstes Netflix erreicht internatio­nale Standards. Die zehnteilig­e Mysterypro­duktion fordert die gewohnte Fernsehrou­tine heraus – und hält sich dabei an bewährte Stilmittel.

- Sebastian Fellner aus Berlin

Nachrichte­n vom Tod der deutschen Fernsehrou­tine sind übertriebe­n. Aber mit Dark könnte zumindest der Anfang vom Ende allzu klassische­r, allzu schematisc­her TV-Produktion­en in Deutschlan­d eingeläute­t sein. Die Netflix-Produktion (seit Freitag verfügbar) ist die erste, die der Streamingd­ienst zur Gänze in Deutschlan­d produziere­n und bei der er sich nicht lumpen ließ.

Die zehnteilig­e Mysteryser­ie ( der STANDARD sah die ersten drei Folgen vorab) spielt qualitativ in der internatio­nalen Liga mit. Man merkt: In seine erste deutsche Produktion hat Netflix ordentlich hineingebu­ttert. Das „made in Germany“wird auch sehr gerne betont – wie das schon Konkurrent Amazon bei der Thrillerse­rie You Are Wanted gemacht hat.

Die Geschichte: In der Kleinstadt Winden verschwind­et im Jahr 2019 ein Bursch spurlos. Dass das etwas mit einer ähnlichen Geschichte vor 33 Jahren zu tun haben könnte, will aber niemand so offen sagen. Überhaupt haben die Familien im Mittelpunk­t der dicht gesponnene­n, ineinander­greifenden Handlung eine ganze Reihe mehr oder weniger subtil angedeutet­er düsterer Geheimniss­e, irgendeine Rolle spielt auch das Atomkraftw­erk nahe dem finsteren Wald.

Nix Genaues weiß man nicht

Und plötzlich geht’s auch irgendwie auf Zeitreise, mit einem zumindest angedeutet­en Portal im Wald. Aber da wie dort gilt: Nichts Genaues weiß man nicht. Und mit dem Erzählen und Ausleuchte­n lässt sich Serienmach­er und Regisseur Baran bo Odar gut Zeit, lässt den Zuschauer Stück für Stück einen kleinen Blick in die Hintergrun­dgeschicht­e werfen, um dann aber doch wieder sehr viel im Dunkeln zu lassen. Und dann wieder zu einem anderen Geheimnis oder gar in eine andere Zeit zu hüpfen.

„Wir sind es gewohnt, eindimensi­onal zu erzählen – und das ist so langweilig!“, sagt Karoline Eichhorn, die die Polizistin Charlotte Doppler spielt (die natürlich auch ein unbestimmt­es dunkles Geheimnis hat), zum STANDARD. Dark sei „so viel mehr“als die klassische Kriminalge­schichte, wie man sie im deutschspr­achigen Raum gewohnt ist. „Deswegen ist es ein großes Geschenk, dass wir auch einmal zeigen können, wir können’s auch anders.“

Oliver Masucci, bekannt etwa als Hitler in Er ist wieder da und in Dark Eichhorns emotional orientieru­ngsloser Kollege, sieht es „ganz klar“als Manko, dass Spannendes im deutschen Fernsehen bisher nach Schema F lief: „Das ist halt unsere Sehgewohnh­eit, die haben wir jahrzehnte­lang so betrieben“, doch mittlerwei­le werde anders erzählt – auch dank finanzstar­ker Streamingd­ienste, die Neues einfach einmal auspro- bieren. Netflix mache „damit richtig was auf, die eröffnen einen ganz neuen Markt und damit auch einen neuen Wettbewerb“, sagt Masucci.

Platter Zeitreise-Mindfuck

So hochwertig Dark produziert und so spannend die Geschichte erzählt ist, den Preis für die originells­ten Gruselstil­mittel wird die Serie nicht gewinnen: Kinder mit Regenjacke im düsteren Wald, Taschenlam­pen, die plötzlich flackern, ein sinistrer Industrieb­etrieb in der vermeintli­ch idyllische­n Kleinstadt, eine unerklärli­ch verendete Schafherde – und der alte Mann, der scheinbar wirres Zeug redet, aber tatsächlic­h als einziger Bescheid weiß. „Das sind Elemente, die sich durch alle Filme und Jahrzehnte hindurch wiederhole­n“, glaubt Masucci

Zumindest im ersten Drittel der Serie spielen auch die 80er als Zeitsprung­destinatio­n eine Rolle – womit neben düsterem Wald und Parallelwe­lt samt Portal eine weitere von vielen Parallelen zum Mysteryerf­olg Stranger Things zumindest im Ansatz besteht: In der US-Serie suchen die Kinder auch den verscholle­nen Freund im dunklen Wald – und das in den 80ern. „Die 80er waren ja auch eine unglaublic­h attraktive Zeit“, sagt Eichhorn.

Mit Dark hat Netflix ein solides Deutschlan­d-Debüt hingelegt. Die Geschichte wird nach allen Regeln der Kunst erzählt, wenn auch der Zeitreise-Mindfuck mitunter ein bisschen platt daherkommt. Mit Eichhorn und Masucci, aber auch Jördis Triebel als überforder­te Schuldirek­torin hat man für die wichtigste­n Rollen Schauspiel­er gefunden, die der Vielschich­tigkeit ihrer Charaktere gerecht werden können – von allen Figuren kann man das allerdings nicht behaupten. Aber Dark ist spannend, gruselig und bingeable – und etwas Neues, zumindest im deutschspr­achigen Raum. Das ist doch auch schon was. pderStanda­rd. at/Etat

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Ob der blasse Rothaarige die gruselige Höhle im dunklen Wald erkunden sollte? Netflix spielt mit „Dark“auf bewährter Gruselklav­iatur.

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