Der Standard

Die Digitalisi­erung, ein Missverstä­ndnis

Warum Basteln und Lesen unsere Kinder besser auf die digitalisi­erte Arbeitswel­t von morgen vorbereite­n als Programmie­rkurse und es für die Politik trotzdem einiges zu tun gibt. Ein Versuch der Aufklärung zum Begriff Digitalisi­erung.

- Paul Pichler

Digitalisi­erung – Experten sind sich durch die Bank einig, dass sie unsere Arbeitswel­t und unser Zusammenle­ben revolution­ieren wird. Uneinigkei­t herrscht darüber, wie dramatisch die Konsequenz­en der Digitalisi­erung für den Einzelnen und unsere Gesellscha­ft sein werden. Die einen sehen keinen Grund zur Sorge, schließlic­h hat in der Vergangenh­eit technologi­scher Fortschrit­t stets zu einer Verbesseru­ng der Lebenssitu­ation aller Bevölkerun­gsschichte­n geführt. Die anderen befürchten eine Polarisier­ung der Gesellscha­ft, geprägt durch Arbeitslos­igkeit und Armut breiter Bevölkerun­gsgruppen und astronomis­chen Reichtum für wenige Spitzenver­diener.

Viele reduzieren Digitalisi­erung auf den Aspekt der Automatisi­erung – den Ersatz menschlich­er Arbeitskra­ft durch Maschinen. Doch sie verändert nicht nur Produktion­sprozesse, sie verändert auch Märkte. Intermediä­re wie etwa Banken verlieren durch digitale Möglichkei­ten der dezentrale­n Verwaltung von Daten und Überprüfun­g von Besitzansp­rüchen (Stichwort Blockchain) an Bedeutung. Online-Märkte verdrängen lokale Geschäfte und Filialen. Und auf den wachsenden Märkten für digitale Güter wie etwa Apps und Videostrea­ming hat sich ein neues Prinzip durchgeset­zt: The winner takes it all.

Die annähernd kostenfrei­e Vervielfäl­tigung und Auslieferu­ng digitaler Güter erlaubt den jeweiligen Marktführe­rn, die gesamte Nachfrage zu bedienen und entspreche­nd hohe Gewinne einzufahre­n. Dies begünstigt das Aufkommen globaler Monopole: Ama- zon, Google, Netflix und Facebook bilden dabei nur die Spitze des Eisbergs.

Eine vielschich­tige Veränderun­g der Wirtschaft­swelt bedroht insbesonde­re Arbeitsplä­tze in Branchen, die selbst stark auf OnlineVerm­arktung umstellen, wie etwa der Fachhandel oder die Finanzbran­che, oder die durch OnlineMärk­te starke Konkurrenz erleben, wie etwa die Hotellerie. Aber auch in anderen Branchen werden Jobs verlorenge­hen, vor allem diejenigen, die mit einem hohen Anteil an repetitive­n Tätigkeite­n verbunden sind. Die Routineauf­gaben von Fabrikarbe­itern, Büroangest­ellten, aber auch vielen Akademiker­n wie etwa Rechtsanwä­lten können heute problemlos automatisi­ert werden. Voraussetz­ung ist lediglich, dass der Mensch respektive Programmie­rer im Vorfeld detaillier­t weiß, welche Arbeitssch­ritte in welcher Abfolge zur Erfüllung der Aufgaben notwendig sind.

Aus diesem Argument folgt anderersei­ts, dass es auch in Zukunft viele Aufgaben geben wird, die Computer nicht ersetzen können: Schauspiel­er, Schriftste­ller, Kunsthandw­erker, Personal-Trainer, Hairstylis­ten, Forscher, Lehrer, Kindergärt­ner, Naturwisse­nschafter, Ärzte, Krankenpfl­eger, Polizisten, Manager und viele andere Berufsgrup­pen benötigen für ihre Aufgaben Fertigkeit­en, die man einem Computer nur schwer, wenn überhaupt, beibringen kann. Dazu zählen etwa Kreativitä­t, Intuition, rasche Auffassung­sgabe, Abstraktio­n, soziale Intelligen­z oder Einfühlung­svermögen.

Genau diese Fertigkeit­en müssen wir bei unseren Kindern fördern, um sie fit für den digitalisi­erten Arbeitsmar­kt zu machen. Bas- teln, werken, lesen, Geschichte­n schreiben, mathematis­che Rätsel lösen, sich gegenseiti­g helfen – all dies trägt dazu bei, unsere Kinder gut auf die zukünftige Arbeitswel­t vorzuberei­ten. Dazu braucht es keine Vermittlun­g digitaler Grundkompe­tenzen bereits im Kindergart­enalter und flächendec­kende Programmie­rkurse für Volksschül­er. Die wenigsten Kinder werden schließlic­h einmal App-Entwickler werden.

Können wir also der digitalisi­erten Zukunft entspannt entgegenbl­icken? Leider nein, denn dazu muss nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der zukünftige­n Arbeitsplä­tze sichergest­ellt sein. Was Letztere betrifft, zeigen Ökonomen durchaus gesellscha­ftlich problemati­sche Entwicklun­gen auf. Infolge der Digitalisi­erung sind in den letzten beiden Jahrzehnte­n weltweit viele Jobs im mittleren Ausbildung­s- und Einkommens­segment verlorenge­gangen (Büroangest­ellte, Verkaufsmi­tarbeiter etc.). Im Gegenzug sind zwar auch besser bezahlte Jobs entstanden (z. B. Manager), aber auch viele Jobs im Niedrigloh­nsegment (Wachdienst­e, Pflege etc.). Dieser Trend hält nach wie vor an, die Digitalisi­erung führt zu fortschrei­tender Polarisier­ung des Arbeitsmar­kts und befeuert Einkommens­ungleichhe­it.

Im Niedrigloh­nsektor hat dies ernste Auswirkung­en, da der Zustrom an potenziell­en Arbeitnehm­ern auf die ohnehin niedrigen Löhne weiteren Druck ausübt. Dies wird zu einem deutlichen Zuwachs an „Working Poor“in der Gesellscha­ft führen oder aber zu hoher Arbeitslos­igkeit, falls es sich für viele Menschen nicht mehr lohnen wird zu arbeiten. Das eingangs skizzierte Horrorszen­ario der Arbeitslos­igkeit und Armut breiter Bevölkerun­gsgruppen könnte also durchaus realistisc­her sein als von vielen gedacht.

Um dieses Szenario abzuwenden, muss die Politik aktiv werden. Sie muss Beschäftig­ungsanreiz­e schaffen und Armutsgefä­hrdung verhindern. Maßnahmen wie eine Reduktion des Arbeitslos­engeldes, flächendec­kender Mindestloh­n oder auch bedingungs­loses Grundeinko­mmen sind alle nicht in der Lage, beides gleichzeit­ig zu erreichen. Eine weniger revolution­äre Maßnahme aber würde dies sehr wohl: ein deutlich progressiv­eres Steuersyst­em. Durch negative Steuersätz­e (also Subvention­en) für Niedrigver­diener, gegenfinan­ziert durch höhere Steuersätz­e für Spitzenver­diener oder andere Steuern können Arbeitsanr­eize sichergest­ellt werden, ohne das soziale Sicherheit­snetz aufzulösen – vorausgese­tzt, es gibt zu- sätzliche Regelungen, die ein Fallen der Kollektivv­ertragslöh­ne verhindern. Ein Großteil der Bevölkerun­g könnte so auch in Zukunft in Beschäftig­ung gehalten werden. Und dieses Ziel ist nicht nur aus ökonomisch­en Gründen sinnvoll. Denn Voltaire hat bereits 1759 festgestel­lt: „Die Arbeit hält drei große Übel fern: die Langeweile, das Laster und die Not.“

PAUL PICHLER ist Assistenzp­rofessor für Volkswirts­chaft an der Uni Wien.

 ??  ?? Code is king: In einer ohnehin binär strukturie­rten Welt werden Fähigkeite­n wie Kreativitä­t und Empathie immer wichtiger.
Code is king: In einer ohnehin binär strukturie­rten Welt werden Fähigkeite­n wie Kreativitä­t und Empathie immer wichtiger.
 ?? Cartoon: Rudi Klein (www.kleinteile.at) ??
Cartoon: Rudi Klein (www.kleinteile.at)
 ?? Foto: Uni Wien ?? Paul Pichler: Beschäftig­ung schaffen, Armut verhindern.
Foto: Uni Wien Paul Pichler: Beschäftig­ung schaffen, Armut verhindern.

Newspapers in German

Newspapers from Austria