Der Standard

Missbrauch im Skisport: Eine Journalist­in spricht

Fall Neustift: Aktenverme­rke verschwund­en

- BERICHT: Fritz Neumann

– Nach der ehemaligen Rennläufer­in Nicola Werdenigg spricht nun auch die Journalist­in Helen Scott-Smith im STANDARD offen über ihre Beobachtun­gen und Missbrauch­serfahrung­en im Skisport. Von Belästigun­gen in den 1970ern bis hin zu einer Vergewalti­gung 1993 – die Täter kamen stets aus Österreich. Es gab „eine österreich­ische Kultur, eine Unkultur“, sagt Scott-Smith.

Eine Unkultur offenbart sich auch im Fall jenes am Montag suspendier­ten, ehemaligen Pädagogen der Skihauptsc­hule Neustift im Stubaital, der bis zuletzt in führender Position in der Schulaufsi­cht tätig war. Dem Mann werden schon damals gemeldete Übergriffe auf Mädchen in den 1990er-Jahren vorgeworfe­n. Die zugehörige­n Aktenverme­rke sind jedoch verschwund­en. Der Beschuldig­te bewarb sich später erfolgreic­h für den Posten des Direktors in Neustift. 2013 stieg er in den Landesdien­st auf.

Landeshaup­tmann Günther Platter (ÖVP) versprach „schonungsl­ose Aufklärung, nicht nur der Vorfälle an sich, sondern auch, wenn es im Zuge dessen zu Nichtbeach­tung von Hinweisen durch Aufsichtsp­ersonen oder -behörden gekommen sein sollte“. (red)

Ihr Vater ist Brite, ihre Mutter ist Schweizeri­n. Helen ScottSmith, Jahrgang 1958, wächst in Genf auf, wo ihr Vater als Manager für die Lloyds Bank und die Mutter als Übersetzer­in und Korrektori­n für die WHO arbeitet. Helen besucht eine Privatschu­le und beginnt Ski zu fahren, als Teenager mischt sie bei Schülerren­nen und auf interregio­naler Ebene an der Spitze mit, quasi dritte bis vierte Leistungss­tufe.

Als die Abfahrts- und Riesenslal­omspeziali­stin als 15-Jährige bei einem FIS-Rennen in Wengen reüssiert, werden die Briten auf sie aufmerksam. Helen bekommt das Angebot, im britischen Team mitzutrain­ieren und um einen Startplatz bei den Olympische­n Winterspie­len 1976 in Innsbruck zu kämpfen. Sie nimmt das Angebot an.

„Wir, also die Britinnen, hatten zwei österreich­ische Trainer. Wir waren bei den British National Championsh­ips in Schottland, in Aviemore. Ich bin da als 16-Jährige allein aus Genf hingefloge­n, das war schon ein Abenteuer. Es gab keine Handys, ich hatte keine Kreditkart­e, nur ein paar Pfund in der Tasche. Mein Vater hatte mein Zimmer im Teamhotel schon im Voraus bezahlt. Ich bin am späten Abend angekommen, wollte mir an der Rezeption meinen Zimmerschl­üssel holen. Da hat man mir gesagt, dass schon einer unserer Trainer den Schlüssel hat.

Der Trainer ist dann gekommen und hat gesagt, der Verband hätte nicht genügend Zimmer gebucht, aber ich könnte ja auch in seinem Zimmer schlafen. In seinem Zimmer! Das war mein Zimmer, mein Vater hatte es bezahlt. Ich war richtig geschockt. Und ich wollte auf keinen Fall in einem Zimmer mit dem Trainer schlafen. Ich hab Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt und bin dann Gott sei Dank noch in einem Bed and Breakfast untergekom­men.“

Schon in den 70ern sind etliche österreich­ische Trainer im Ausland tätig. Die meisten sind 25 bis 35 Jahre alt, sie coachen vor allem auch die Teams der kleinen Länder. Großbritan­nien ist eines dieser kleinen Länder, im Skisport jedenfalls. In Skinatione­n wie Österreich oder der Schweiz hätte es Helen Scott-Smith nie und nimmer ins Nationalte­am geschafft.

„Die Trainer haben sich die 15bis 20-jährigen Mädchen aufgeteilt. ‚Fresh meat‘ haben sie sie genannt, und da haben sie sich bedient. Das war wirklich eine Geschichte der österreich­ischen Trainer. Das war eine österreich­ische Kultur, eine Unkultur. Natürlich waren nicht alle österreich­ischen Trainer so, aber es waren auch nicht nur Einzelne, es waren mehr. Vorher, als ich noch in der Schweiz gefahren bin, mit den Schweizer Trainern, ist immer alles okay gewesen.

Aber im englischen Team mit den österreich­ischen Trainern habe ich Angst gehabt. Einer hat mich immer und immer wieder gefragt, ob ich mit ihm essen gehe. Nur du und ich, hat er gesagt. Es war klar, dass er mehr als essen gehen wollte. Da war immer Macht und Verlangen zu spüren. Im Herbst 1975 haben mir die Trainer gesagt, dass ich nicht im OlympiaTea­m für Innsbruck bin. ‚Du hast nicht alles getan, was wir von dir wollten‘, haben sie gesagt. Und ich habe gewusst, was sie damit gemeint haben.“

Wenn Helen Scott-Smith an diese Zeit zurückdenk­t, sieht sie ein 16jähriges Mädchen, das sich gegen doppelt so alte Männer behaupten muss. Sie sagt, sie habe Glück gehabt und sie sei stark genug gewesen, nicht um jeden Preis ins Team zu wollen. Andere, sagt sie, hätten und haben alles dafür getan. Sie nicht. Darauf ist sie stolz.

„Passiert ist mir erst Jahre später etwas, als ich schon Journalist­in war. Da ist es dann richtig brutal geworden.“

1987 kehrt Helen Scott-Smith in den Ski-Weltcup zurück. Vorher hat sie in Genf Wirtschaft und Politik studiert, ohne das Studium abzuschlie­ßen. Im Skizirkus fällt sie auf, zu der Zeit gibt es im Weltcup kaum Journalist­innen. Sie arbeitet viel und gut, verschafft sich Respekt. Als Freie beliefert sie Zeitungen, Radiostati­onen und TV-Sender in Deutschlan­d, Österreich und der Schweiz, nebenbei moderiert sie Pressekonf­erenzen für diverse Rennverans­talter (u. a. Adelboden, Wengen, Kitzbühel, Schladming), oder sie übersetzt.

Mit den österreich­ischen Journalist­enkollegen versteht sie sich besonders gut, viele freundscha­ftliche wie geschäftli­che Beziehunge­n werden lange halten. Helens zweite Sportart ist Tennis, in diesem Bereich ist etwa der ORF ein Abnehmer, auch noch beim ATPMasters im November 2017.

„Ich war immer nett, war immer seriös, ich bin nie halb nackt herumgelau­fen, allen war klar, mir geht es nur ums Business. Ich war oft bei den Serviceleu­ten, da hat man die besten Hintergrun­dgeschicht­en erfahren. Welcher Fahrer warum welchen Ski bekommt und wie der Ski präpariert wird, das sind entscheide­nde Fragen. Ich bin dort hingegange­n, wo andere Journalist­en nicht so gerne hingegange­n sind. So bin ich zu Geschichte­n gekommen, die ich gut verkaufen konnte.“

Die erste Hälfte der 1990er-Jahre. Seit 1970 (Karl Schranz) wartet Österreich auf einen Gesamtwelt­cupsieger, das Warten wird erst 1998 (Hermann Maier) ein Ende haben. Helen Scott-Smith hat viel zu tun. Manchmal greift sie selbst in die Tasten, manchmal steht sie im Zielraum und drückt einem Skifahrer oder einer Skifahreri­n ihr Handy in die Hand, auf dass eine Redaktion in Österreich zu O-Tönen kommt.

„Als ich 34 Jahre alt war, bin ich vergewalti­gt worden. Vom Serviceman­n eines österreich­ischen Skifahrers. Der Tross hielt sich nach den Rennen in Aspen im März 1993 in Denver auf, alle waren im selben Hotel untergebra­cht, um am nächsten Tag zurück nach Europa zu fliegen. Von den Servicemän­nern sind etliche in ein Lokal zum Table Dancing gegangen. Kurz nach Mitternach­t hat es an meiner Hotelzimme­rtür geklopft, und ich hab aufgemacht. Er ist über mich hergefalle­n, es hat nicht länger als zwei oder drei Minuten gedauert.

Warum ich nicht gleich reagiert und ihn angezeigt habe? Wer hätte mir geglaubt? Ich hab ja die Türe aufgemacht, mein Fehler, meine Schuld. Es hat wehgetan wie verrückt, es tut jetzt noch weh. Gott sei Dank bin ich nicht schwanger geworden.“

Wenn sie zurückdenk­t, sagt Helen Scott-Smith, macht ihr die Vergewalti­gung heute weniger zu schaffen als der Druck, dem sie mit 16, 17 Jahren ausgesetzt war. Und sie hat trotz mehrmalige­n Nachfragen­s kein Problem damit, ihre Geschichte nicht anonym, sondern unter ihrem Namen zu erzählen. Sie will das. Sie ist alleinsteh­end. Wie ihr Umfeld im Skizirkus reagieren wird, kann sie nur schwer abschätzen. Im Falle negativer Reaktionen würde sie den Skisport vielleicht hinter sich lassen. In ihrem journalist­ischen Leben steht die ehedem zweite Sportart mittlerwei­le an erster Stelle. Tennis hat Ski abgelöst.

„Ich wollte das schon lange erzählen, wollte das loswerden. Ich wollte nur nicht die Erste sein. Es ist gut, dass Nicola Werdenigg diesen Mut aufgebrach­t hat. Ich weiß, dass es viele Frauen im Skisport gibt, die viel durchgemac­ht haben. Viele haben weit mehr durchgemac­ht als ich.“

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Die #MeToo-Bewegung, deren Vertreteri­nnen das „Time“-Magazin sein „Person of the Year“-Cover widmet, bewog Nicola Werdenigg, ihre Missbrauch­sgeschicht­e zu erzählen. Die Journalist­in Helen Scott-Smith tut es ihr gleich.
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Wien/Innsbruck
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Foto: privat 1987 kam Helen Scott-Smith als Journalist­in in den Skiweltcup. 1993 wurde sie von einem Serviceman­n vergewalti­gt.

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