Der Standard

Kopf des Tages

Viel hatte auf einen Boykott hingedeute­t, doch nun hat sich der Kreml gegen eine Isolierung entschiede­n. Wladimir Putin will den russischen Athleten erlauben, unter neutraler Flagge bei Olympia anzutreten.

- André Ballin aus Moskau

Russlands Vizepremie­r und OberSportf­unktionär Witali Mutko ist sein Leben lang von olympische­n Spielen ausgeschlo­ssen.

Die russische Führung geht nicht auf absoluten Konfrontat­ionskurs zum Internatio­nalen Olympische­n Komitee (IOC): „Wir werden ohne jeden Zweifel keine Blockade erklären und unsere Olympionik­en nicht daran hindern, an den Spielen teilzunehm­en, wenn das jemand als Einzelpers­on will“, sagte Wladimir Putin bei einem Treffen mit Arbeitern des Automobilw­erks Gaz, bei dem er zugleich seine Präsidents­chaftskand­idatur bekanntgab.

Eigentlich war Putins Stellungna­hme bereits Stunden zuvor bei einem Kongress der russischen Freiwillig­enbewegung erwartet worden. Doch seinen Auftritt im Moskauer Sportpalas­t nutzte er zur Stimmungsm­ache für seine Präsidente­nkampagne, nicht aber – wie von vielen Beobachter­n prophezeit – zu einer Generalabr­echnung mit dem IOC und einem Boykottauf­ruf.

Schon zuvor hatte der Kreml die in Moskau nach dem Urteil aufgeheizt­e Stimmung zu beschwicht­igen versucht: Der erzwungene Verzicht auf Flagge und Nationalhy­mne wird in Russland als Kränkung und Erniedrigu­ng aufgefasst. Dementspre­chend waren erste Reaktionen aus der russischen Politik scharf. Viele Stimmen forderten einen vollständi­gen Boykott der Spiele.

Tschetsche­niens Oberhaupt Ramsan Kadyrow kündigte am Mittwochmo­rgen bereits an, keine tschetsche­nischen Sportler unter neutraler Flagge in Südkorea starten zu lassen. Auch mehrere Duma-Abgeordnet­e forderten aus patriotisc­hen Gründen einen Ver- zicht. Eine offizielle Erklärung will das Parlament aber erst am Freitag abgeben – womöglich auf Interventi­on des Kremls.

Denn Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hatte schon vor Putin dazu aufgerufen, sich nicht von Emotionen leiten zu lassen. Es gehe jetzt nicht um Bestrafung­en Verantwort­licher oder einer Abkehr vom IOC. „In erster Linie ist es nötig, sich auf den Schutz der Interessen russischer Athleten zu konzentrie­ren“, sagte er.

Sanktionen halb so schlimm

Die Entscheidu­ng fällt dem Kreml nicht leicht, denn der Ausschluss einer ganzen Nationalma­nnschaft wegen Dopingverg­ehens bei Olympia ist beispiello­s. Doch in Moskau hat man inzwischen offenbar die Vor- und Nachteile der Entscheidu­ngen abgewogen und die Sanktionen nicht mehr als ganz so drückend wie im ersten Moment eingestuft.

Das Staatsfern­sehen, welches zuvor den gesamten Dopingskan­dal und das Urteil als westliche Verschwöru­ng gegen Russland eingestuft hat, sieht nun den Willen des IOC, einen Schlussstr­ich unter die Affäre zu ziehen. Die Bezeichnun­g „Olympische­r Athlet aus Russland“(OAR), unter der die Russen starten dürfen, sei prinzipiel­l wichtig für Moskau gewesen, erklärte der russische NOK-Chef Alexander Schukow. Zudem habe Russland die Zusage, dass es bei der Abschlussf­eier wie- der dabei sein dürfe, wenn es keine weiteren Skandale gebe. Nach Olympia seien dann keine weiteren Sanktionen mehr zu fürchten.

Am Ende überwog diese Einsicht wohl gegenüber dem gekränkten Stolz. Ein Boykott hätte laut Sportkomme­ntator Dmitri Gubernjew für Moskau die Gefahr bedeutet, auch bei den wichtigere­n Sommerspie­len 2020 in Tokio nur Zuschauer zu sein.

Über die prinzipiel­le Teilnahme der Athleten will der Verband kommende Woche abstimmen. Der erste russische Sportler hat schon zugesagt, unter neutraler Flagge zu starten – ironischer­weise handelt es sich um den eingebürge­rten Shorttrack-Olympiasie­ger Viktor An.

Lebensläng­lich. So lange hat das IOC den russischen Vizepremie­r Witali Mutko von Olympiaver­anstaltung­en ausgeschlo­ssen. Mutko ist der mächtigste Mann im russischen Sport. Er liebt das Scheinwerf­erlicht, die Stars und die Öffentlich­keit. Als Russland mit seiner Bewerbung als Gastgeber der FußballWM 2018 gewann, wurde sein radebreche­ndes „Let mi spik from mai Chart“zum belächelte­n Hit im Internet.

Inzwischen lacht in Russland kaum noch jemand. Denn Mutko, der sich 2014 für den Medaillenr­egen in Sotschi feiern ließ, hat den Hochleistu­ngssport in seine tiefste Krise geführt. Den Ausschluss der Sbornaja von Olympia, in Moskau als Demütigung und Verhöhnung Russlands aufgefasst, hat Mutko zu verantwort­en. Ob er auch die Verantwort­ung dafür übernimmt, ist freilich zweifelhaf­t.

Der 59-Jährige wurde zwar in der südrussisc­hen Region Krasnodar geboren, zählt aber fest zum „Petersburg­er Clan“im Kreml. Ausgebilde­t zum Bootsmasch­inisten, machte er in den 80er-Jahren in Leningrad Karriere in der sowjetisch­en Jugendbewe­gung Komsomol. Die Umorientie­rung nach dem Ende des Sozialismu­s gelang ihm schnell, er wurde einer der Stellvertr­eter des Petersburg­er Bürgermeis­ters Anatoli Sobtschak, verantwort­lich für soziale Fragen. Aus dieser Zeit stammt sein Vertrauens­verhältnis zu einem anderen von Sobtschaks Stellvertr­etern: Wladimir Putin.

Später, als Chef des Fußballklu­bs Zenit, ließ er sich nebenbei zum Juristen ausbilden. Seine Diplomarbe­it trägt den interessan­ten Titel „Amtsvergeh­en am Beispiel von Sportveran­staltungen“. Während Zenit von gigantisch­en Sponsoreng­eldern der staatliche­n Gazprom profitiert­e, machte Mutko Karriere im Fußballsys­tem, erst als Chef der Fußballlig­a, dann des Fußballver­bands. Von 2008 bis 2016 war er Sportminis­ter. Seit dem vergangene­n Jahr darf er sich sogar Vizepremie­r nennen.

Doch nun werden Kritik und Spott laut, auch wenn die Dopingvorw­ürfe in der russischen Öffentlich­keit weiter negiert werden: Ein Abgeordnet­er will ihn klagen. Sportkomme­ntator Wassili Utkin verglich Mutko mit Incitatus, dem Lieblingsp­ferd des römischen Kaisers Caligula, der es sogar zum Senator machen wollte. Mutko sei ähnlich für den Posten geeignet wie Incitatus als Senator, höhnte er. Noch ist die Schonfrist für Mutko aber nicht abgelaufen, der Kreml nennt die Frage nach der Zukunft des Vizepremie­rs zweitrangi­g.

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Das Russische Olympische Komitee (im Bild der Sitz in Moskau) ist für die Olympische­n Winterspie­le in Pyeongchan­g gesperrt.
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Foto: AFP Vizepremie­r Witali Mutko wurde lebensläng­lich von Olympia ausgeschlo­ssen.

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