EU-Streit um Flüchtlinge
Beim EU-Gipfel wollten die 28 Regierungschefs in Ruhe die Verhandlungen über den Brexit und die Euroreform vorantreiben. Stattdessen brach ein neuer wilder Streit um die Migrationspolitik und Flüchtlingsquoten aus.
EU-Ratspräsident Donald Tusk hat vor dem EU-Gipfel einen Streit über Migration und Flüchtlingsquoten ausgelöst.
So harte Worte hat es zwischen den Staats- und Regierungschefs bei einem EU-Gipfel schon lange nicht mehr gegeben wie am Donnerstag beim letzten Spitzentreffen in diesem Jahr in Brüssel.
Die Vorschläge des Ständigen Ratspräsidenten Donald Tusk bezüglich der Flüchtlingsfrage seien „planlos, deplatziert und sinnlos“, richtete etwa der griechische Premierminister Alexis Tsipras seinen Kollegen schon aus der Ferne aus, bevor er von Athen in die EU-Hauptstadt aufbrach. „Keine Chance“, dass das angenommen werde, so Tsipras, dessen Land 2015 von Flüchtlingen auf der Balkanroute besonders betroffen war.
Tusk hatte den EU-Chefs für das Arbeitsabendessen vorgegeben, eine offene „politische Debatte“ohne Beschlüsse zum Thema zu führen. Das Konzept der EUKommission für verpflichtende Aufteilung von Flüchtlingen aus Italien und Griechenland auf alle Staaten habe sich als „nicht effizient“herausgestellt – was in EUParlament wie Kommission einen Sturm der Entrüstung auslöste.
Kaum weniger deutlich äußerte sich – aus ganz anderen Motiven – der slowakische Regierungschef Robert Fico. Er hatte sich gemeinsam mit seinen Kollegen aus den anderen Visegrádstaaten (Ungarn, Polen, Tschechien) am Rande des Gipfels mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Italiens Premierminister Paolo Gentiloni zusammengesetzt. Ziel war es, in der Quotenfrage eine Annäherung zu erzielen.
Da Ungarn, Polen und Tschechien die Quoten strikt ablehnen und mit der Slowakei für eine „asymmetrische Lastenverteilung“eintreten, hat die Kommission vergangene Woche gegen sie Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingebracht. Beim Vermittlungsversuch sagten die vier Visegrádländer nun zu, dass sie gemeinsam 35 Millionen Euro in den EU-Afrikafonds einzahlen wollen, was am Ende das derzeit von der Flüchtlingswelle über das Mittelmeer hauptbetroffene Italien entlasten soll.
Dazu Fico: „Wir wollen Solidarität zeigen, aber wir weisen Quoten entschieden zurück. Das funktioniert nicht.“Die Union müsse viel stärker ihre Außengrenzen schützen, sagte der sozialdemokratische slowakische Premier, „sonst bekommen wir eine Menge Probleme. Es gibt kein Menschen- recht, in die EU zu reisen.“Dieser harte Tonfall wurde von vielen Regierungschefs übernommen.
So wies Bundeskanzler Christian Kern bei seinem letzten EUGipfel die Tusk-Anregungen „in höchstem Maße“zurück. Man solle sich bei Solidarität mit Flüchtlingen nicht freikaufen dürfen, erklärte er, ohne darauf einzugehen, dass Österreich bisher nur 17 der per Quote zugesagten 1953 Flüchtlinge übernommen hat.
Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron forderte ebenfalls Solidarität ein, versuchte aber zu beruhigen, ebenso Luxemburgs Xavier Bettel: „Beide Seiten haben recht.“Beschlüsse zur gemeinsamen Migrations- und Asylpolitik stünden erst 2018 an.
„Nicht ausreichend“
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ging ebenfalls auf Distanz zu Tusk („nicht ausreichend“), es könne keine „selektive Solidarität“geben. Dabei hatte der Ständige Ratspräsident es in seinem Einladungsbrief eigentlich gut gemeint: Er wies nur darauf hin, dass das vor zwei Jahren im EUInnenministerrat mit Mehrheit beschlossene System nicht funktioniere. Es sei nicht zielführend, wenn man sich in dieser Frage am Ende vor dem EuGH treffe. Man müsse versuchen, gemeinsam voranzukommen, weil es eine Spaltung zwischen West und Ost, Nord und Süd in der Union gebe.
Der Streit über die Migration überschattete die für die Regierungschefs ursprünglich wesentlichen Themen: Sie verabschiedeten in Anwesenheit von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg die verstärkte EU-Militärkooperation (Pesco) und die Ausweitung der Brexit-Verhandlungen auf Stufe zwei – mit neuen Problemen aus London (siehe Bericht unten).