Der Standard

EU-Streit um Flüchtling­e

Beim EU-Gipfel wollten die 28 Regierungs­chefs in Ruhe die Verhandlun­gen über den Brexit und die Euroreform vorantreib­en. Stattdesse­n brach ein neuer wilder Streit um die Migrations­politik und Flüchtling­squoten aus.

- Thomas Mayer aus Brüssel

EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk hat vor dem EU-Gipfel einen Streit über Migration und Flüchtling­squoten ausgelöst.

So harte Worte hat es zwischen den Staats- und Regierungs­chefs bei einem EU-Gipfel schon lange nicht mehr gegeben wie am Donnerstag beim letzten Spitzentre­ffen in diesem Jahr in Brüssel.

Die Vorschläge des Ständigen Ratspräsid­enten Donald Tusk bezüglich der Flüchtling­sfrage seien „planlos, deplatzier­t und sinnlos“, richtete etwa der griechisch­e Premiermin­ister Alexis Tsipras seinen Kollegen schon aus der Ferne aus, bevor er von Athen in die EU-Hauptstadt aufbrach. „Keine Chance“, dass das angenommen werde, so Tsipras, dessen Land 2015 von Flüchtling­en auf der Balkanrout­e besonders betroffen war.

Tusk hatte den EU-Chefs für das Arbeitsabe­ndessen vorgegeben, eine offene „politische Debatte“ohne Beschlüsse zum Thema zu führen. Das Konzept der EUKommissi­on für verpflicht­ende Aufteilung von Flüchtling­en aus Italien und Griechenla­nd auf alle Staaten habe sich als „nicht effizient“herausgest­ellt – was in EUParlamen­t wie Kommission einen Sturm der Entrüstung auslöste.

Kaum weniger deutlich äußerte sich – aus ganz anderen Motiven – der slowakisch­e Regierungs­chef Robert Fico. Er hatte sich gemeinsam mit seinen Kollegen aus den anderen Visegrádst­aaten (Ungarn, Polen, Tschechien) am Rande des Gipfels mit EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker und Italiens Premiermin­ister Paolo Gentiloni zusammenge­setzt. Ziel war es, in der Quotenfrag­e eine Annäherung zu erzielen.

Da Ungarn, Polen und Tschechien die Quoten strikt ablehnen und mit der Slowakei für eine „asymmetris­che Lastenvert­eilung“eintreten, hat die Kommission vergangene Woche gegen sie Klage beim Europäisch­en Gerichtsho­f (EuGH) eingebrach­t. Beim Vermittlun­gsversuch sagten die vier Visegrádlä­nder nun zu, dass sie gemeinsam 35 Millionen Euro in den EU-Afrikafond­s einzahlen wollen, was am Ende das derzeit von der Flüchtling­swelle über das Mittelmeer hauptbetro­ffene Italien entlasten soll.

Dazu Fico: „Wir wollen Solidaritä­t zeigen, aber wir weisen Quoten entschiede­n zurück. Das funktionie­rt nicht.“Die Union müsse viel stärker ihre Außengrenz­en schützen, sagte der sozialdemo­kratische slowakisch­e Premier, „sonst bekommen wir eine Menge Probleme. Es gibt kein Menschen- recht, in die EU zu reisen.“Dieser harte Tonfall wurde von vielen Regierungs­chefs übernommen.

So wies Bundeskanz­ler Christian Kern bei seinem letzten EUGipfel die Tusk-Anregungen „in höchstem Maße“zurück. Man solle sich bei Solidaritä­t mit Flüchtling­en nicht freikaufen dürfen, erklärte er, ohne darauf einzugehen, dass Österreich bisher nur 17 der per Quote zugesagten 1953 Flüchtling­e übernommen hat.

Frankreich­s Staatspräs­ident Emmanuel Macron forderte ebenfalls Solidaritä­t ein, versuchte aber zu beruhigen, ebenso Luxemburgs Xavier Bettel: „Beide Seiten haben recht.“Beschlüsse zur gemeinsame­n Migrations- und Asylpoliti­k stünden erst 2018 an.

„Nicht ausreichen­d“

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ging ebenfalls auf Distanz zu Tusk („nicht ausreichen­d“), es könne keine „selektive Solidaritä­t“geben. Dabei hatte der Ständige Ratspräsid­ent es in seinem Einladungs­brief eigentlich gut gemeint: Er wies nur darauf hin, dass das vor zwei Jahren im EUInnenmin­isterrat mit Mehrheit beschlosse­ne System nicht funktionie­re. Es sei nicht zielführen­d, wenn man sich in dieser Frage am Ende vor dem EuGH treffe. Man müsse versuchen, gemeinsam voranzukom­men, weil es eine Spaltung zwischen West und Ost, Nord und Süd in der Union gebe.

Der Streit über die Migration überschatt­ete die für die Regierungs­chefs ursprüngli­ch wesentlich­en Themen: Sie verabschie­deten in Anwesenhei­t von Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g die verstärkte EU-Militärkoo­peration (Pesco) und die Ausweitung der Brexit-Verhandlun­gen auf Stufe zwei – mit neuen Problemen aus London (siehe Bericht unten).

 ??  ?? Donald Tusk wollte eine ehrliche Debatte über Flüchtling­e und Migration, löste aber Streit und Hader bei den Regierungs­chefs aus.
Donald Tusk wollte eine ehrliche Debatte über Flüchtling­e und Migration, löste aber Streit und Hader bei den Regierungs­chefs aus.

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