Der Standard

Chinas wachsende Familien

Durch die Zweikindpo­litik werden Eltern für die Wirtschaft wieder interessan­t. Autoherste­ller haben sich bereits auf den Trend zu größeren Familien eingestell­t. Verbrauche­rportale boomen. Eltern fragen vor allem Produkte aus dem Ausland nach.

- Johnny Erling aus Peking

Chinas neue Zweikindpo­litik führt zu größeren Familien – und bringt bestimmten Branchen neue Absatzchan­cen.

Bei schönem Wetter treffen sich chinesisch­e Mütter jeden Vormittag zum Plausch vor ihren Apartments in der Neubausied­lung Panyu. Die palmenumsä­umten Straßen des Viertels in der Kantoner Südstadt sind mit Autos der Anwohner verstellt. Hier wohnen typische Mittelschi­chtfamilie­n. Fast jede Frau trägt ein Baby am Arm. Das Besondere daran: Es ist meist ihr zweites Kind.

Kinderwage­n werden zur Schau gestellt, Informatio­nen ausgetausc­ht, wo sich Windeln und gesunde Babynahrun­g online kaufen lassen. Unter den Autos stehen viele SUVs und neue Mehrzweckf­ahrzeuge. Der benachbart­e Shenzhener Batterie- und Autokonzer­n BYD (Build Your Dreams) hat sich auf den neuen Bedarf eingestell­t. Auf der Kantoner Automesse stellte er einen Siebensitz­er der Marke Song Max für die Zweitkindf­amilie vor. Der Minivan bietet Platz für den Ausflug einer Kleinfamil­ie mit zwei Kindern plus Großeltern und Kinderfrau. Verstellba­re Hintersitz­e, ein um 90 Grad drehbarer TV-Bildschirm und Internetve­rbindung gehören zur Ausstattun­g. Im Internet hat es den Spitznamen „Heiliges Gefährt für das zweite Kind.“Auch internatio­nale Autobauer haben sich auf die neue Kindpoliti­k in China bereits eingestell­t.

Skepsis ist abgeklunge­n

Als Peking zum Stichtag 1. Jänner 2016 nach mehr als 35 Jahren beschlosse­n hatte, die Einkindpol­itik zu beenden, zeigten sich inund ausländisc­he Medien erst einmal skeptisch. Chinas Stadtbürge­r würden kein zweites Kind wollen, war die einhellige Ansicht. Es sei ihnen zu teuer und zu unbequem.

Statistike­n bestätigte­n ihre Zweifel. Ende 2016 veröffentl­ichte etwa der Allchinesi­sche Frauenverb­and die Ergebnisse seiner Großumfrag­e unter mehr als 10.000 Eltern mit noch unmündigen Einzelkind­ern. Danach wollten 62 Prozent der Befragten keinen weiteren Nachwuchs, vor allem nicht in Metropolen wie Peking, Schanghai oder Kanton. „Sorgen dämpfen den Wunsch nach einem zweiten Kind“, hieß es. 82,5 Prozent nannten Geldsorgen und Arbeitsstr­ess, zu wenig vorhandene Kindergärt­en und Schulen. Sie hätten auch kein Vertrauen in die Babynahrun­g, zur Krankenver­sorgung und befürchtet­en schlechte Umweltbedi­ngungen.

Nur zehn Monate später schrieb die Nachrichte­nagentur Xinhua ganz anders: „Chinas Eltern sind optimistis­ch. Sie wollen ein zweites Kind.“Den Stimmungsu­mschwung spiegelten auch nüchterne Zahlen wider. Von Jänner bis August wurden heuer in der Volksrepub­lik 11,62 Millionen Babys geboren. Mehr als die Hälfte von ihnen (52 Prozent) waren Zweitkinde­r.

Schon im Vorjahr wurden fast 18,5 Millionen Neugeboren­e ge- zählt, die höchste Zahl seit dem Jahr 2000. 45 Prozent darunter waren Zweitkinde­r. Die Rate aller Neugeburte­n stieg offiziell auf 1,7 Prozent. Sie lag 2000 bis 2015 nur zwischen 1,5 und 1,6 Prozent.

Daraufhin hatte das „NationalKo­mitee für Altenfrage­n“alarmiert die Verdopplun­g der derzeit über 60-jährigen Chinesen auf 400 Millionen Menschen ab 2033 pro- phezeit. China würde schneller alt als reich werden.

Für Peking war das einer der Hauptgründ­e, um abrupt seine Einkindpol­itik zu beenden. Diese Maßnahme reiche nicht aus, warnen inzwischen Kritiker der staatliche­n Geburtenpl­anung. Insgesamt würden zu wenig Kinder geboren, schrieb etwa der Bevölkerun­gsexperte He Yafu jüngst in der Zeitung Beijng News. Es gebe zwar mehr Zweitgebur­ten, doch weniger Erstgeburt­en, weil die Gesamtzahl geburtenfä­higer Frauen abgenommen habe. Nach mehr als drei Jahrzehnte­n der aufgezwun-

genen Einkindpol­itik hätten sich auch die geburtenfä­higen Jahrgänge unter den Frauen verringert.

2016 zählten Chinas Eltern mit Nachwuchs (null bis sechs Jahre) 221 Millionen Personen. Darunter waren 113 Millionen Kinder. Abgeordnet­e im nationalen Parlament (Volkskongr­ess) forderten im März, die Geburtenbe­schränkung­en aufzuheben und finanziell­e Anreize für Neugeboren­e anzubieten. Zudem müsse Peking in den Ausbau von Entbindung­sstationen und Kinderkrip­pen investiere­n. Die Forderung nach einer freizügige­ren Geburtenpo­litik wird kommenden März wieder auf die Tagesordnu­ng des Parlaments kommen, sagen chinesisch­e Experten. Wirtschaft­sverbände rechnen mit einer Liberalisi­erung.

Verbrauche­rtests boomen

Auf mehr Kinderreic­htum in China stellt sich auch die 2015 in Peking gegründete, deutsch-chinesisch­e Plattform für Verbrauche­rschutz Okoer.com ein. Das Gemeinscha­ftsunterne­hmen zwischen dem Frankfurte­r Ökotest und chinesisch­en Investoren lässt seit dem Frühjahr eine App entwickeln. Sie soll zum Neujahrsfe­st im Frühjahr 2018 auf den Markt kommen. „Die Verbrauche­rgruppe Eltern und Kind bis zu sechs Jahren ist unsere Zielgruppe“, sagt der Hamburger Thomas Böwer, Geschäftsf­ührer bei Okoer.com.

Laut Marktforsc­hung komme dem neuen Segment großes Potenzial zu. Derzeit geben 60 Prozent aller Mütter zwischen 500 und 2000 Yuan pro Monat (63 und 255 Euro) für ihre bis zu drei Jahre alten Kinder aus, vor allem für Windeln, Babynahrun­g und Hygiene.

Viele chinesisch­e Eltern vertrauen nach den Inlandsska­ndalen etwa mit gepanschte­r Milch den Auslandspr­odukten. Bei Windeln, deren milliarden­fache Nachfrage in den vergangene­n fünf Jahren um jährlich zehn Prozent stieg, stammen nur 33 Prozent aus chinesisch­er Produktion. 67 Prozent werden aus Ländern wie Japan und Deutschlan­d importiert.

Okoer.com hat bisher 193 Tests von mehr als 2000 ausländisc­hen und chinesisch­en Produkten durchgefüh­rt und veröffentl­icht, die in China erworben und in deutschen Labors geprüft wurden. Das aufwendige Verfahren hat die unabhängig­e Verbrauche­rwebseite in der Bevölkerun­g populär gemacht. Mehr als ein Drittel (750) ihrer getesteten Marken und Warengrupp­en stammen aus dem künftigen neuen Schwerpunk­tbereich von Babynahrun­g bis zu Spielzeug.

Das Joint Venture will darauf ein neues Geschäftsm­odell aufbauen, das von der Bewertung der Produkte bis zur Beratung beim Kauf reicht. In China will man der Zielgruppe Angebote und bezahlbare Dienstleis­tungen offerieren – von Gesundheit­sversorgun­g, Krankenver­sicherung bis zu Klubmitgli­edschaften für werdende Eltern. Zweites Standbein ist die Kosmetik. „Mütter sind schließlic­h auch junge Frauen“, sagt Böwer. Er formuliert einen ehrgeizige­n Wunsch: „Wir wollen am Ende zur ersten Anlaufadre­sse für werdende Mütter, junge Väter und ihre Kinder in China werden.“

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Nach 35 Jahren hat China seine Einkindpol­itik beendet. Seit heuer schnellen die Geburtenra­ten für ein zweites Kind nach oben.

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