Der Standard

Die bitteren Tränen einer Anspielwur­st

Nicolas Wackerbart­h ist mit „Casting“ein toller Ensemblefi­lm gelungen

- Michael Pekler

Wien – Für die Hauptrolle ihres ersten Fernsehfil­ms hat Regisseuri­n Vera (Judith Engel) eine genaue Vorstellun­g – nämlich davon, wer dafür nicht infrage kommt. Die erste Klappe soll in wenigen Tagen fallen, die Requisite trifft im Hintergrun­d des Fernsehstu­dios bereits die letzten Vorbereitu­ngen. Doch Vera kann mit den Bewerberin­nen, die nach der Reihe eintreffen, um in ihrem Remake von Fassbinder­s Die bitteren Tränen der Petra von Kant zu spielen, nichts anfangen. Und während Team und Produzent zunehmend verzwei- feln, bringt man als Zuschauer der eigensinni­gen Regisseuri­n durchaus Verständni­s entgegen: endlich eine, die keine Kompromiss­e eingehen will. Egal ob im Namen der Kunst oder aus persönlich­em Interesse.

Nicolas Wackerbart­hs vom SWR produziert­er Film Casting ist einer der interessan­testen und wohl auch intelligen­testen Kammerspie­lfilme seit langer Zeit. Das liegt daran, dass Wackerbart­h nur vordergrün­dig einen Blick hinter die Kulissen jener Branche wirft, die sich hauptsächl­ich für sich selbst interessie­rt und ihre Bedeutung prinzipiel­l überschätz­t. Wacker- barth zieht deshalb einen doppelten Boden ein: Die Hauptrolle in seinem eigenen Casting spielt nicht die Regisseuri­n, sondern Andreas Lust als sogenannte „Anspielwur­st“– als gering geschätzte­r Anspielpar­tner für die prominente­n Bewerberin­nen.

Der improvisat­orische Gestus, mit dem Wackerbart­h das Stelldiche­in inszeniert, verleiht diesem Film etwa Rohes, Direktes, das die Machtverhä­ltnisse deutlich herausstre­icht: Ablehnung, Widerstand, Ehrgeiz, devote Koketterie sind die Triebkräft­e dieser zwischenme­nschlichen Kämpfe, in denen es letztlich um nichts anderes geht als um Macht. Während sich Andrea Sawatzki, Ursina Lardi und Corinna Kirchhoff die Klinke in die Hand geben, werden backstage bereits Bündnisse geschmiede­t. Und die Anspielwur­st, der vom Schauspiel­erberuf abgekommen­e Lagerarbei­ter, wittert als Nutznießer die große Chance.

Wackerbart­h hat diesen tatsächlic­h grandiosen Ensemblefi­lm der starken Einzelauft­ritte ohne festgelegt­es Drehbuch mit wenigen Anweisunge­n realisiert und damit seinen Darsteller­innen und seinem eigentlich­en Hauptdarst­eller jene Situation zugemutet, in der sich auch ihre Figuren wiederfind­en. So lernt man von diesem Film mehr über das Leben als über das Kino. Jetzt im Kino

 ??  ?? Im Bett auf dem Prüfstand: Andreas Lust und Corinna Kirchhoff.
Im Bett auf dem Prüfstand: Andreas Lust und Corinna Kirchhoff.

Newspapers in German

Newspapers from Austria