Der Standard

Endstation Libyen statt Endstation Europa

Hunderttau­sende Flüchtling­e aus Darfur fristen ein trostloses Leben im Osten des Tschad. Einer von ihnen hat versucht, nach Europa zu gelangen, um seine Familie zu ernähren. Nun gilt er als in Libyen verscholle­n.

- Kim Son Hoang aus Goz Beïda

Es klingelt immer und immer wieder. Doch will oder eher kann keiner in Libyen abheben, seit geschlagen­en zehn Tagen nicht. Mohamed Jouma Ahamed blickt starr in Richtung Boden, wenn er darüber spricht. Es geht um das Handy seines jüngeren Bruders Ahamed, der sich vom Tschad in Richtung Europa aufgemacht hat. Libyen scheint Endstation für den 37-Jährigen zu sein, wie für so viele andere Flüchtling­e. „Tag und Nacht“, sagt Mohamed Jouma Ahamed mit monotoner Stimme, „frage ich mich, was ihm passiert sein könnte“. Angst habe er, Angst vor der Antwort.

Aus europäisch­er Perspektiv­e betrachtet ist die Lage klar: Niemand soll den Weg nach Europa durch die Sahara, durch Libyen und schließlic­h übers Mittelmeer antreten. Zu gefährlich sei das alles, heißt es, schließlic­h kommen auf der Route jährlich tausende Menschen ums Leben. Aber natürlich geht es vor allem darum, die Ankünfte in Europa drastisch zu reduzieren, nach dem Rekordjahr 2016 mit 181.436 neu registrier­ten Flüchtling­en in Italien.

Südlich von Libyen, im subsaharis­chen Afrika, ist die Sicht der Dinge nicht nur geografisc­h eine andere. Im Camp Djabal nahe der Stadt Goz Beïda im Osten des Tschad sind Flüchtling­e aus Darfur untergebra­cht. Seit dort 2003 der bis heute andauernde Konflikt zwischen sudanesisc­hen Truppen und Rebellen, die sich von der Zentralreg­ierung in Khartum unterdrück­t fühlen, begann, sind hunderttau­sende Menschen geflohen. Rund 300.000 befinden sich aktuell im Tschad, in Djabal sind es etwa 22.000.

Eher Stadt denn Camp

Mohamed Jouma Ahamed ist einer von ihnen. Er, 41 Jahre alt, ist eine allseits respektier­te Person in Djabal, das merkt man sofort. Der Großgewach­sene, akkurat gekleidet in weißem Hemd und dunkler Faltenhose, ist nicht nur Direktor der einzigen Mittelschu­le, sondern auch Inspektor für sämtliche zehn Schulen in Djabal. Hierher kam er mit seiner Familie als einer der ersten Flüchtling­e, 2004 war das. Während damals noch alles provisoris­ch war, von Unterkünft­en bis zu medizinisc­her und sonstiger Versorgung, so mutet Djabal heute eher wie eine Stadt denn ein Camp an.

Schulen gibt es genug, Geschäfte zieren die sandigen Straßen, und statt der sonst in Camps üblichen Zelte stehen überall stabile Ziegelhäus­er. Nach dem Unterricht spielen die Kinder in Massen auf dem Basketball­platz, bei für den Osttschad winterlich­en 35 Grad am Tag. Auch Schreckens­meldungen über bewaffnete Angriffe auf die Camps gehören der Vergangenh­eit an. Alles gut also? Dann wäre Ahamed Jouma Ahamed nicht nach Libyen gegangen.

Trotz all der Hilfe, die den Darfuris vor allem durch das UN-Flüchtling­shochkommi­ssariat (UNHCR) und die Humanitäre Hilfe der EU (Echo) zuteil wurde – der Tschad selbst ist dafür zu arm –, ist das Leben in den Lagern eines ohne große Zukunftsch­ancen. Nach der Schule dürfen nur wenige mittels Stipendium an die Uni. Arbeiten darf man, doch die guten Jobs bleiben Flüchtling­en verwehrt. So sind weiterhin fast alle von Hilfsorgan­isationen abhängig. Eine Rückkehr ist nicht möglich, zu gefährlich ist es immer noch in Darfur. Und die Chancen, einen der raren Resettleme­ntplät- ze für die legale Einreise nach Europa zu ergattern, sind gering.

Das alles erklärt die Geschichte von Ahamed Jouma Ahamed. Als Lehrer habe er gearbeitet und dafür 8000 tschadisch­e CFA im Monat erhalten. Umgerechne­t sind das etwa zwölf Euro, hier wie dort also quasi nichts, vor allem wenn man Frau und vier Kinder hat. Nach jahrelange­m vergeblich­en Warten auf Besserung hat es Ahamed schließlic­h gereicht.

Im Goldmineng­ebiet erkrankt

„Zuerst ging Ahamed ins Goldmineng­ebiet von Tibesti, um zu Geld zu kommen“, erzählt Mohamed. Tibesti im Nordwesten des Landes kann man getrost als tschadisch­es Klondike bezeichnen. Doch herrschen dort die Tibu-Milizen, mit denen eher nicht zu spaßen ist. Letzten Endes hat Ahamed aber eine Krankheit zum Aufgeben gezwungen. Nur mit Mühe und ohne Geld schaffte er es wieder zurück nach Djabal.

Wieder genesen, entschied er, nach Europa gehen zu wollen – in vollem Bewusstsei­n, wie es in der Sahara, in Libyen, im Mittelmeer zugeht. „Von Kalait aus hat er mit Freunden ein Auto gemietet. An Das UNHCR-Registrier­ungsdokume­nt von Ahamed Jouma Ahamed (links unten), seiner Frau und seinen vier Söhnen. der Grenze wurden sie von Milizen gefasst“, erzählt Mohamed. Einen Monat lang haben sie Ahamed gefangen gehalten und geschlagen, bis er die Nummer seines Bruders verriet. „Sie riefen an und verlangten 2000 libysche Dinar für die Freilassun­g meines Bruders.“Doch die umgerechne­t etwa 1230 Euro besaß er nicht. Ein Freund im Camp Djabal half aus.

Wieder freigelass­en, verschlug es Ahamed in die Hafenstadt Bengasi, wie er seinem Bruder in regelmäßig­en Telefonate­n erzählte. Arbeit fand er in einer Fabrik, er wollte Geld verdienen, um die Lösegeldsc­huld zurückzuza­hlen – und um sich dann Schlepper für die Überfahrt nach Europa leisten zu können. 1000 libysche Dinar, etwa 600 Euro, sagt Mohamed, sollen dafür notwendig sein.

In Bengasi, erzählte Ahamed seinem Bruder, sei es stets gefährlich gewesen. Kaum einer ging hinaus auf die Straße. Oft klopften Bewaffnete an das Haus, in dem er wohnte, und forderten Geld.

Nun herrscht Funkstille. Den Weg nach Europa kann er noch nicht beschritte­n haben, erklärt Mohamed. Sein Bruder hatte nicht einmal genug Geld, um seine Schulden zu begleichen. Was passiert sein könnte, Mohamed will es gar nicht ausspreche­n. Aber er weiß vom Sklavenhan­del in Libyen, weiß von den Foltergefä­ngnissen, vom Tod, der hinter jeder Ecke lauern könnte.

Selbst will er nicht nach Libyen gehen, um nach seinem Bruder zu suchen. Auch jedem anderen würde er die Reise dorthin ausreden wollen, zu gefährlich sei es. Doch kann er jene verstehen, die trotzdem versuchen, nach Europa zu gelangen. „Dort ist es besser als hier“, sagt Mohamed. Auch wenn er weiß, dass Flüchtling­e alles andere als mit offenen Armen empfangen werden. Die Reise in den Tschad wurde von Echo finanziert.

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Mohamed Jouma Ahamed kümmert sich notgedrung­en um die Familie seines Bruders Ahamed. Nach Libyen zu gehen, um nach ihm zu suchen, ist dem 41-Jährigen zu gefährlich.
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