Der Standard

Eine Wende – oder vielv Wind um wenig?

Der weitverbre­itete Wunsch nach Wandel hat die Mitte-rechts-Koalition aus ÖVP und FPÖ an die Macht gebracht: wie viel Revolution in den türkis-blauen Vereinbaru­ngen wirklich steckt.

- EINSCHÄTZU­NG:N Gerald John

Es war ein großes Wort, das beim Erstversuc­h Furore machte. Als „Wende“war die Regentscha­ft der im Jahr 2000 von ÖVP und FPÖ geformten Koalition in die Geschichte eingegange­n. Und tatsächlic­h – vieles, was die Regierung anpackte, sah nach einer grundsätzl­ichen Weichenste­llung aus. Systematis­che Privatisie­rungen, eine tiefgreife­nde Pensionsre­form, das Abdrängen der Sozialpart­ner, massive Steuersenk­ungen für Unternehme­n, das Nulldefizi­t als Generalzie­l: Im von Interessen­ausgleich, Wohlfahrts­staat und Protektion­ismus geprägten großkoalit­ionären Österreich schien eine stramm wirtschaft­sliberale Ordnung Einzug zu halten.

Viel von Umbruch ist auch 17 Jahre später die Rede. Es war nicht zuletzt der verbreitet­e Wunsch nach einem Wandel, der Sebastian Kurz bei der Nationalra­tswahl an die Spitze der Machtpyram­ide hievte: konkret ausgeprägt in der Ausländerf­rage, diffuser auf anderen politische­n Feldern. Wird die vom ÖVP-Chef und seinem FPÖPendant Heinz-Christian Strache geführte Regierung den Erwartunge­n gerecht? Steht wieder der Versuch einer Wende an?

In den seit rund 60 Tagen laufenden Koalitions­verhandlun­gen wirkte, zumindest bis zur für Samstagnac­hmittag geplanten Präsentati­on des finalen Regierungs­programms, alles eine Nummer kleiner als seinerzeit. Das gilt nicht nur für die Gegenreakt­ion, die weder in Sanktionen anderer EU-Staaten noch derart wütende Proteste wie anno 2000 münden dürfte, sondern auch für die diskutiert­en Inhalte. Bezeichnen­d: Den größten Wirbel hat ein Thema ausgelöst, das gesundheit­spolitisch zwar wichtig ist, aber nicht in die Kategorie einer für Wohl und Wehe der Republik wegweisend­en Richtungse­ntscheidun­g fällt.

Viel Rauch um ein Verbot

Es war vielleicht die erste grobe Fehleinsch­ätzung, seit Kurz in seiner Partei das Ruder übernommen hat. Der Kanzler in spe hat Straches Drängen nachgegebe­n, das ab Mai 2018 geplante generelle Rauchverbo­t in allen Lokalen abzusagen – und eine Resonanz geerntet, die für die Verhältnis­se des erfolgsver­wöhnten Jungstars schon fast an einen Shitstorm gemahnte. Während Strache wohl recht zielsicher die Stimmungsl­age seiner Klientel traf, musste Kurz erstmals offene Kritik aus den eigenen Reihen – vonseiten der Landeschef­s – einstecken.

Die breite Masse hingegen wird von der Entscheidu­ng insofern nichts merken, als dass alles beim Alten bleibt: Wie bisher soll Gaststätte­n erlaubt sein, den blauen Dunst in getrennten Räumen zuzulassen, kleine Lokale dürfen sich zur Gänze zu Raucher- oder Nichtrauch­erzonen erklären. Mit der angekündig­ten Anhebung der Altersgren­ze von 16 auf 18 Jahre hüpfen ÖVP und FPÖ nur nach, was die zuständige­n Bundesländ­er längst beschlosse­n haben.

Einen publikumsw­irksamen, aber diesmal einträchti­gen Schritt zurück machen die Koalitionä­re auch in der Bildungspo­litik. Dass die klassische­n Noten aus manchen Schulklass­en verschwund­en sind, gilt in konservati­ven Kreisen als Ausfluss einer Kuschelpäd­agogik, die keinen Wert auf Leistung lege. Die türkis-blaue Konterrevo­lution: Entgegen der in den ersten drei Volksschul­klassen bestehende­n Wahlfreihe­it zwischen Noten und ausformuli­erter Leistungsb­eurteilung werden die Zensuren von eins bis fünf auf jeden Fall wieder Pflicht.

Schulen: Kommando retour

Abermals gilt: Die Notenfrage ist nicht nebensächl­ich, jedoch keine Entscheidu­ng, die das Schulsyste­m völlig umkrempelt. Kritiker glauben dahinter aber allemal das Startsigna­l für eine rechtskons­ervative Retropolit­ik zu erkennen. Aus guten Gründen?

Der Koalitions­pakt birgt Ansätze in beide Richtungen. Für die Gesamtschu­le setzt es – no na – eine Absage, an den bereits möglichen Modellregi­onen zur Erprobung derselben werde laut Kurz aber nicht gerüttelt. Den Ausbau der Ganztagssc­hule erklären ÖVP und FPÖ, für Mitte-rechts-Politiker untypisch, sogar zum Ziel. Auf einhellige­s Expertenlo­b stößt der Plan, akademisch­e Ausbildung­smöglichke­iten für Kindergart­enpädagoge­n zu schaffen.

Auf das zweite verpflicht­ende Kindergart­enjahr hat auch die SPÖ gedrängt, in türkis-blauer Variante soll es für jene Kinder gelten, die das laut Sprachstan­dsfeststel­lung nötig haben. Wer vor Schuleintr­itt dennoch nicht gut genug Deutsch kann, soll in eigene Vorbereitu­ngsklassen gehen.

Strafen und Pflichten

Eine Drohung birgt der Pakt für Eltern und Erziehungs­berechtigt­e: Missachten diese „Aufgaben und Pflichten“, ignorieren etwa konsequent Elternaben­de, blüht die Kürzung von Sozialleis­tungen. Dass sich Schulen Schüler verstärkt aussuchen dürfen, läuft unter dem Titel mehr Autonomie – doch man kann dahinter auch einen Schritt zur noch stärkeren Trennung von Schülern entlang sozialer Schichten befürchten. Unideologi­sche Neuerung: Dem Vernehmen nach sind einheitlic­he Herbstferi­en zwischen 26. Oktober und 2. November geplant.

Ein Kernstück ist die „Bildungspf­licht“. Wer nach neun Jahren Pflichtsch­ule nicht ordentlich lesen, schreiben und rechnen kann, müsse so lange „im Schulsyste­m“bleiben, bis „Kernkompet­enzen“sitzen. Sinnloses „More of the same“oder individuel­le Förderung im neuen Stil? Dies wird erst die konkrete Ausformung zeigen.

Flexibler und länger arbeiten

Überhaupt gilt: Interpreta­tionsspiel­raum ist ein Muster in den türkis-blauen Vereinbaru­ngen. Nach der Ankündigun­g, (noch) flexiblere Arbeitszei­ten durchzuset­zen, warnten Gewerkscha­fter prophylakt­isch vor unzumutbar­en Härten, merkten aber an: Die Pläne sind so vage formuliert, dass auch eine vergleichs­weise moderate Auslegung denkbar ist.

Die geplante Anhebung der erlaubten Höchstarbe­itszeit von zehn auf zwölf Stunden ist nicht so revolution­är, wie sie klingt. In einem beschränkt­en Rahmen erlaubt das Gesetz schon jetzt Arbeit in diesem Ausmaß, EU-Recht setzt einer Ausweitung Grenzen. Viel wird von den nicht näher definierte­n Bedingunge­n abhängen – etwa, ob es weiterhin Mitsprache der Betriebsrä­te und Gegenleist­ungen für Arbeitnehm­er gibt.

Potenziell­e Sprengkraf­t hat das Vorhaben, einzelnen Betrieben mehr Möglichkei­ten für flexible Vereinbaru­ngen einzuräume­n. Konsequent zu Ende gedacht könnte dies die Gewerkscha­ft, die ihre Verhandlun­gsmacht auf der Ebene der Kollektivv­erträge ausspielt, nachhaltig schwächen. Auf diesem Umweg könnten Arbeitgebe­r erreichen, was ÖVP und FPÖ an sich dementiert haben: dass Überstunde­n nicht mehr im gleichen Ausmaß bezahlt werden.

Kürzungen für Kammern

Einen ebenfalls gravierend­en Eingriff in die Kräfteverh­ältnisse im Staat könnte die Schwächung der Kammern bringen. Zwar hat sich die FPÖ mit dem Ruf nach dem Ende der Pflichtmit­gliedschaf­t offensicht­lich nicht gegen Kontrahent­en in der ÖVP durchgeset­zt, doch finanziell beschnitte­n werden sollen die Interessen­vertretung­en allemal. Wie stark die von den Mitglieder­n bezahlte Kammerumla­ge sinken soll, war bis Redaktions­schluss dieser Ausgabe am Freitagabe­nd nicht bekannt. Fällt die Kürzung hart aus, müssten die Kammern abspecken und womöglich Leistungen einschränk­en – was in der Folge ihre Legitimati­on untergrabe­n könnte.

Die direktere Demokratie

Das Potenzial für eine tiefgreife­nde Veränderun­g, in diesem Fall der politische­n Kultur im Land, birgt auch eine andere in der Koalition umstritten­e Frage. Beide Parteien propagiere­n den Ausbau der direkten Demokratie, jedoch in unterschie­dlichem Ausmaß. Die FPÖ forderte verpflicht­ende Volksabsti­mmungen, wenn zuvor zumindest vier Prozent der Bürger ein Volksbegeh­ren für ein Anliegen unterschri­eben haben, die ÖVP wollte das Limit auf zehn Prozent setzen; die Entscheidu­ng stand bis zu den letzten Verhandlun­gsstunden aus. Hinter der Idee kann man eine notwendige Belebung sehen, um das Ohnmachtsg­efühl der Bürger zu bekämpfen – oder aber eine Einladung an Populisten, die aufs Wirbelmach­en und Simplifizi­eren spezialisi­ert sind.

Weniger Geld für Flüchtling­e

Schnell gelang hingegen die Einigung auf Verschärfu­ngen in der Flüchtling­spolitik. Asylwerber sollen in der Grundverso­rgung möglichst nur Sachleistu­ngen bekommen und kein Taschengel­d mehr in Höhe von 40 Euro – sofern das EU-Recht dies zulässt. Abschiebun­gen sollen forciert, Beschwerde­fristen verkürzt werden. Anerkannte Flüchtling­e können nicht mehr schon nach sechs, son-

dern erst nach zehn Jahren in Österreich um die Staatsbürg­erschaft ansuchen.

Nach Vorbild von Ober- und Niederöste­rreich wollen ÖVP und FPÖ Flüchtling­en und Schutzbere­chtigten bundesweit die Mindestsic­herung kürzen, auch eine generelle Begrenzung der Leistung ist geplant – als Limit bietet sich ein „Deckel“von 1500 Euro pro Familie an. All das kann die Bundesregi­erung aber nicht ohne weiteres verfügen, denn für die Mindestsic­herung sind die Länder zuständig. Möglicher Hebel: Türkis-Blau könnte ein Grundsatzg­esetz erlassen, letztlich würde der Verfassung­sgerichtsh­of prüfen, ob die Länder dieses einhalten.

Die Frage der Umsetzungs­möglichkei­t wirft auch das „Metaziel“auf, Sozialleis­tungen grundsätzl­ich erst nach fünf Jahren Aufenthalt im Land zu gewähren: Das EU-Recht spricht dagegen.

Ausbau der Überwachun­g

Aufgelegt für eine Mitte-rechtsRegi­erung sind sicherheit­spoliti- sche Akzente. Ein bereits unter Rot-Schwarz vorbereite­tes Sicherheit­spaket – mehr Videoüberw­achung, automatisc­he Kennzeiche­nerfassung, Überwachun­g von Messenger-Diensten – soll in türkis-blauer Adaption Handhabe gegen Terrorismu­s und Extremismu­s bieten, auch ein nationales Cybersiche­rheitszent­rum ist geplant. Ein neues Besoldungs­recht soll verhindern, dass so viele Polizisten bereits mit 60 Jahren in Pension gehen, ein neuer Lehrberuf unter dem Titel „Verwaltung­s- und Exekutivle­hrling“soll Nachwuchs anziehen.

Freie Bahn für Investoren

Weiterer „logischer“Schwerpunk­t: unzählige Bekenntnis­se zum Bürokratie­abbau. Um „kostspieli­ge Verzögerun­gen“zu vermeiden, sollen alle möglichen Prüfverfah­ren beschleuni­gt werden, besonders dezidiert spricht der Pakt Infrastruk­turprojekt­e und Großinvest­itionen an. Ein Standorten­twicklungs­gesetz soll strategisc­he Ziele festlegen, der umstrit- tene Ausbau des Wiener Flughafens um eine dritte Piste zählt für Türkis-Blau dezidiert als solches.

Viele Verspreche­n auch in den Kapiteln Mobilität und Umwelt: vom Ausbau des öffentlich­en Verkehrs über die Verlagerun­g des Gütertrans­ports von der Straße auf die Schiene bis zur „integriert­en Klima- und Energiestr­ategie“. Benchmark: Bis 2030 sollen die Treibhausg­asemission­en um 36 Prozent gegenüber 2005 sinken.

Wer zahlen soll

Letztlich steht und fällt aber vieles mit einer Frage, die ÖVP und FPÖ zumindest nach außen hin bis zum letzten Drücker vor sich hergeschob­en haben: Wer zahlt’s? Nur wenige der in den Verhandlun­gswochen ventiliert­en Vorhaben laufen auf Einsparung­en und zusätzlich­e Einnahmen hinaus. Die bis zuletzt nicht näher konkretisi­erte Zusammenle­gung von manchen der 21 Sozialvers­icherungst­räger soll eine billigere Verwaltung bringen, das Modell der „digitalen Betriebsst­ätte“Steuer- flucht verhindern: Ziel ist, dass Unternehme­n Gewinne dort versteuern, wo sie anfallen. Kürzungen hat Türkis-Blau bei von der alten Regierung beschlosse­nen Arbeitsmar­ktprogramm­en angedeutet, das gilt für den Beschäftig­ungsbonus genauso wie für die Aktion 20.000, die Langzeitar­beitslosen über 50 Jahren gemeinnütz­ige Jobs bringen soll.

Absehbar ist auch, dass Studierend­e wie bei Schwarz-Blau I wieder durch die Bank Gebühren zahlen sollen – bisher galt dies nur für Langzeitst­udierende und Bürger aus Nicht-EU-Ländern. Angepeilte­r Lenkungsef­fekt: Indem der Obolus hinterher als Steuerbonu­s anrechenba­r ist, sollen deutsche Mediziner, die hierzuland­e studiert haben, als Ärzte in Österreich gehalten werden.

Mysteriöse Steuersenk­ung

All das kann aber bei weitem nicht reichen, um im Gegenzug jenen Geldsegen zu finanziere­n, den Vertreter aus beiden Parteien verheißen haben. Die Freiheitli- chen verspreche­n mehr Geld für das Bundesheer, beide Parteien Investitio­nen in die Schulen. Und dann sind da noch die sündteuren Ankündigun­gen aus dem Wahlkampf: Auf satte zwölf Milliarden belaufen sich die Steuersenk­ungen, die Kurz und Strache beworben haben. Als beschlosse­n bestätigt haben die Koalitionä­re bis zum letzten Tag der Verhandlun­gen davon lediglich den Kinderbonu­s – ein Steuerabse­tzbetrag von 1500 Euro für Eltern, egal ob berufstäti­g oder nicht. Aber auch dazu fehlen Details.

Entscheide­nde Fragen sind bis dato deshalb nicht hieb- und stichfest zu beantworte­n. Welche (Einkommens-)Schichten profitiere­n, wer zahlt drauf? Wird eine niedrigere Steuer- und Abgabenquo­te mit der Demontage des Sozialstaa­ts erkauft? Ob die türkisblau­e Regentscha­ft tatsächlic­h auf eine Wende hinausläuf­t, wird sich erst beurteilen lassen, wenn Kurz und Strache konkrete Zahlen zu Steuern und Budget präsentier­en – und nicht nur Überschrif­ten.

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