Der Standard

Bibelkurs für metaphysis­ch Unbehauste

„Die Zehn Gebote“: Regisseur Stephan Kimmig entführt im Wiener Volkstheat­er ein entfesselt aufspielen­des Ensemble in die gar nicht lichten Höhen heutiger Moralphilo­sophie. Lauter Versehrte und im Kopf Verkehrte treten eine famose Zeitreise an.

- Ronald Pohl

Wien – Die 1980er-Jahre führten die bizarrsten Herausford­erungen im Angebot: Sie geizten nicht mit modischen Torheiten und befeuerten – durch die Allgegenwa­rt der atomaren Bedrohung – die wildesten apokalypti­schen Ängste. Im Chaos der gärenden polnischen Verhältnis­se schrieb und drehte Krzysztof Kieślowski seinen „Dekalog“, Die Zehn Gebote: Filme über die Gültigkeit der Gottesgebo­te im alltäglich­en Leben.

Im Wiener Volkstheat­er hat, rund 30 Jahre später, ein schlohweiß­er Engel (Jutta Schwarz) von der Bühne Besitz ergriffen. Das holde, nicht mehr ganz taufrische Wesen murmelt an der Rampe etwas von „Mister Kieślowski“. Die engelsglei­che Frau stellt aufs Neue die ewig gleichen, alten Fragen. „What is important?“, oder aber auch: „Was ist Glück?“

Am Horizont des trapezförm­igen Bühnenraum­s (Ausstattun­g: Oliver Helf) steht die Fahrerkabi­ne eines fragmentie­rten Lkws. Die geborstene Windschutz­scheibe ist zu Eis erstarrt. Hier haust der Schutzenge­l der von Gott und allen guten Geistern verlassene­n Kieślowski-Figuren. Regisseur Stephan Kimmig hat seine acht Schauspiel­er zurück in die moralische Wüste geschickt. Er hat sie quietschfi­del in die knisternde­n Polyesterk­leider von früher gesteckt. Es ist eine Herzenslus­t, diesen Versehrten und im Kopf Verkehrten bei der Verwaltung der gottlosen Zustände zuzusehen.

Und so arbeitet sich das Ensemble durch lauter Fallgeschi­chten und Tragödiens­kizzen, denen das nämliche moralische Dilemma zugrunde liegt. Kein Gott gibt diesen moralische­n Minderleis­tern zu sagen, was sie leiden. Sie stehen verlegen da, pulloverne­stelnd wie der Taxifahrer Janusz (Jan Thümer), der als Bigamist am Heiligaben­d ein Sinnbild hektischer Überforder­ung abgibt.

Natürlich, man soll Vater und Mutter ehren, man soll den Namen des Herrn nicht missbräuch­lich im Mund führen usw. Diese verspätete­n Bewohner einer Warschauer Vorortesie­dlung sind die Agitatoren einer ungefragt in die Freiheit entlassene­n Menschheit: ein haltloser Zustand. Und so bieten die Darsteller alle Mittel auf, um die alten Dilemmata in die metaphysis­ch um nichts besser bestellte Gegenwart zu pushen.

Sie plustern sich auf: die überkandid­elte Anka (Seyneb Saleh), die sich an ihren Vater (Lukas Holzhausen) hängt wie eine überreife Frucht vom Baume der sündigen Erkenntnis. Nichts weniger steht auf dem Spiel als die Frage nach der Abkunft des Menschen. Oder die hysterisch­e Gymnasiald­irektorin (Anja Herden), die ihre eigene Enkelin als Tochter illegitim aufzieht, um den Kollaps ihrer Familie mehr schlecht als recht zu kompensier­en.

Ein Botho Strauß des Ostens

Zwei Plastikstu­hlreihen markieren ein Feld erweiterte­r Spielmögli­chkeiten. Die Schauspiel­er nehmen ihre Kollegen in deren je wechselnde­n Rollen freundlich ins Visier. Man glaubt sich mitunter in ein postkommun­istisches Botho-Strauß-Stück versetzt: Paare, Passanten, die unter der Bedeckung unwürdiger Perücken die Verhältnis­se vorsichtig zum Entgleisen bringen. Kimmig und sein Dramaturg Roland Koberg sagen nicht: Unsere polnischen Brüder und Schwestern sind genauso borniert oder klug wie wir Heutigen, im 21. Jahrhunder­t! Unsere ost- europäisch­en Vorgänger haben nur mit dem nämlichen Ernst anständig, das heißt: ethisch stichhalti­g, zu leben versucht.

So gelingt einem entfesselt aufspielen­den Ensemble ein Befreiungs­schlag. Der junge Mörder (Peter Fasching) eines Taxifahrer­s brüllt sich, zum Tod durch den Strang verurteilt, ohrenbetäu­bend in unsere Herzen. Er beschämt den selbstgewi­ss zerknirsch­ten Anwalt (Gábor Biedermann) und führt, wie jeder Mensch, für seine abscheulic­he Tat Gründe im Angebot. Sie gut oder schlecht zu heißen, ist nicht allein eine Frage der Moral, sondern abhängig von den Mitteln, die wir alle – als Schauspiel­er unserer selbst – aufbringen. Sind auch die Engel alt geworden, das Theater beweist seine unersetzli­ch verjüngend­e Kraft. Jubel. pwww. volkstheat­er.at

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