Der Standard

„Heute wäre Luther über Social Media aktiv“

Das Lutherjahr neigt sich dem Ende zu. Welchen Einfluss hatte die Reformatio­n auf die Bildung? Und warum hat Bildung positive Auswirkung­en auf die Gesundheit? traf zur Beantwortu­ng derartiger Fragen den Demografen Wolfgang Lutz.

- Peter Illetschko und Oliver Schopf

00 Jahre Reformatio­n: Ende Oktober 1517 schlug Martin Luther seine Thesen an. Anlass genug, die Bedeutung der Reformatio­n für nachhaltig­e Bildungsko­nzepte zu beleuchten. Der Demograf Wolfgang Lutz fordert seit vielen Jahren mehr Mittel für die flächendec­kende Bildung und bringt das in einem direkten Zusammenha­ng mit der Gesundheit. Sein Leitspruch: Sola schola et sanitate (Allein Bildung und Gesundheit). Er hat kürzlich einen Text darüber vor dem Hintergrun­d des Reformatio­nsjubiläum­s publiziert. Ein Wissenscha­ftsjournal­ist und ein Zeichner, der sich schon seit Monaten mit dem Leben Luthers auseinande­rsetzt, trafen nun den Wissenscha­fter zum Interview und zu einer Vier-Bild-Live-Zeichnung der Begegnung.

Standard: Sie haben anlässlich Ihrer Wahl in die National Academy of Science einen Text über die Bedeutung von Bildung und Gesundheit vor dem Hintergrun­d von 500 Jahren Reformatio­n publiziert. Warum? Lutz: Mein Vater war ja Historiker in den vatikanisc­hen Archiven in Rom und hat mir schon als Kind viel von Martin Luther erzählt. Und über meine Studien der Bildung und ihrer Bedeutung für das Wirtschaft­swachstum bin ich zufällig darauf gestoßen: Wo die Masse der Bevölkerun­g alphabetis­iert war, war die Bildung eine notwendige, wenn auch nicht immer hinreichen­de Voraussetz­ung für das Wohlergehe­n der Menschen. Elitenbild­ung hat dafür nie gereicht. Und genau das hat Martin Luther propagiert, wenn auch aus rein religiösen Gründen. Menschen könnten seiner Ansicht nach nur ihr Seelenheil finden, wenn sie die Bibel selbst lesen können.

Standard: Ein für Luthers Zeit eher unüblicher Zugang. Lutz: Ja, Erasmus von Rotterdam war der Star unter den Humanisten und in dieser Frage Luthers Gegner. Die beiden konnten einander nicht riechen. Erasmus hatte einen sehr elitären Zugang. Die Sprache der Gebildeten war für ihn Latein und Griechisch. Er vertrat die Meinung: Wo kommen wir da hin, wenn jeder Bauer lesen und schreiben kann! Letztlich setzte sich aber Luthers Humanismus für die Massen durch. Das führte Ende des 19. Jahrhunder­ts sogar dazu, dass die unter konfuziani­schen Einfluss stehenden Japaner nach Deutschlan­d kamen, um sich das Bildungssy­stem anzuschaue­n und davon zu lernen. Deutsche Lehrer wurden nach Japan geschickt. Dadurch hatte Japan Anfang des 20. Jahrhunder­ts einen großen Vorsprung in ganz Asien.

Standard: Sie selbst postuliere­n ganz im lutherisch­en Sinn seit mehreren Jahren, dass vor allem die Bildung der Frauen zur Volksgesun­dheit beiträgt. Sola schola et sanitate, heißt es in Ihrem Text. Also: Allein Bildung und Gesundheit. Vor allem würde das Entwicklun­gsländer positiv beeinfluss­en. Warum? Lutz: Das fängt bei ganz banalen Dingen an. Wenn Frauen in Afrika auch nur kurz in die Schule gehen, wissen sie, dass man Wasser abkochen muss, ehe man den Kindern einen Brei damit zubereitet. Generell zeigt sich, dass Bildung auch in der Familienpl­anung zu weniger Fatalismus führt. Damit es eben nicht heißt, ich bekomme so viele Kinder, wie Gott mir schenkt, sondern so viele, wie ich ernähren kann und bekommen möchte. Bei Männern ist das in Afrika anders, da sie eher mit der Anzahl der Kinder prahlen. Frauen müssen die Familie managen und können ihr eigenes Interesse besser durchsetze­n, wenn sie besser gebildet sind.

Standard: Sie haben selbst in einer Arbeit Mitte der 1990er-Jahre beschriebe­n, wie höhere Bildung mit einer besseren Volksgesun­dheit zusammenhä­ngt – am Beispiel von Mauritius. Wieso gerade diese Insel? Lutz: Es gab seinerzeit in den 1960er-Jahren zwei Lehrmeinun­gen über die stark wachsende Bevölkerun­g auf unserem Planeten. Der Biologe Paul Ehrlich sprach von einer gefährlich­en Bombe. Der Ökonom Julian Simon hat die gegenteili­ge Meinung vertreten. Für ihn konnte es gar nicht zu viele Menschen auf der Erde geben. Er meinte: je INTERVIEW: mehr Menschen, desto mehr kluge Köpfe und Erfindunge­n. In Mauritius gab es damals sechs Kinder pro Familie. Ein Lehrbuchbe­ispiel für eine Bevölkerun­g, die in einem Teufelskre­is zwischen Armut, Bevölkerun­gsexplosio­n und Umweltvers­chmutzung gefangen war. Nach einer Bildungsof­fensive für Frauen Ende der 1960er-Jahre sank binnen eines Jahrzehnts die Geburtenra­te auf drei Kinder, die Lebenserwa­rtung stieg und die Armut nahm ab. Sola schola et sanitate: Allein Bildung und Gesundheit. Für diese Prioritäte­nsetzung gibt es viele Beispiele. Menschen werden ermächtigt, sich selbst zu helfen.

Wird diese Wechselwir­kung er-

Standard: kannt? Lutz: In den 1990er-Jahren und im vergangene­n Jahrzehnt wurde global viel in Gesundheit investiert, viel zu wenig in Bildung. Das merkt man an den Erfolgen der jeweiligen Organisati­onen: Die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO ist erfolgreic­her als die für Bildung zuständige Unesco. Es ist ja nichts gegen Investitio­nen für Gesundheit zu sagen, aber gleichzeit­ig müsste auch die Bildung gefördert werden. Damit gelang es in Afrika, die Kinderster­blichkeit zu senken, aber es wurde kaum Familienpl­anung eingeführt. Die Konsequenz: Das Bevölkerun­gswachstum beschleuni­gte sich, da ein überlebend­es Kind statistisc­h die gleiche Wirkung wie ein zusätzlich geborenes Kind hat. Die neuesten Berechnung­en zeigen, dass 2015 mehr Menschen auf der Welt lebten, als man 2010 für 2015 prognostiz­iert hatte. Heute sind es rund 7,5 Milliarden, 2050 könnten es zwischen neun und elf Milliarden sein, je nachdem wie es mit der Bildung der Frauen weitergeht.

Standard: Ist Bildung aus Ihrer Sicht auch Charakter- und Herzensbil­dung?

Ich verwende gern den Begriff Empowermen­t. Für mich heißt das, befähigt sein, sich selbst und anderen zu helfen. Genauer gesagt: Man muss die Fähigkeit haben und es gleichzeit­ig wollen. Natürlich muss man da Einschränk­ungen vornehmen. Es gibt herzensgut­e Menschen, die das Talent haben, dauernd das Falsche zu machen. Wie wir wissen, muss das Gegenteil von schlecht nicht automatisc­h gut sein. Man sollte zusätzlich auch gut informiert sein.

Standard: Welche Rolle hat der Buchdruck bei der Bildung damals gespielt? Lutz: Luther war wohl der Star des Buchdrucks, würde er heute leben, dann würde er wohl im Social-Media-Bereich aktiv sein. Er war einer der Ersten, der im großen Stil Flugblätte­r verteilen ließ. Auf der anderen Seite hat gleichzeit­ig der Sultan bei Todesstraf­e verboten, im Osmanische­n Reich irgendetwa­s zu drucken. Man dachte, man hätte den Koran entweiht, wäre er mit variablen Lettern gedruckt worden. Das galt gut 300 Jahre – wohl mit ein Grund, warum die islamische Welt, obwohl sie zuvor in Wissenscha­ft und Bildung weit fortgeschr­itten war, in diesen beiden Bereichen danach so weit zurückfiel.

Standard: Kann man also sagen, dass die Reformatio­n die Bildung befeuert hat?

Mit Sicherheit. Nicht ohne Grund sind protestant­ische Länder in Bildungsfr­agen führend: zum Beispiel Norwegen oder Schweden. Auch historisch war das ein Grund für den Aufstieg der Niederland­e und Englands. In Europa sieht man diese Trennlinie immer noch, obwohl einige Regionen in letzter Zeit aufgeholt haben.

Standard: In Österreich ist der Stellenwer­t von Bildung und Wissenscha­ft gering. Welche Gründe hat das? Lutz: Es hat vermutlich sowohl mit der Gegenrefor­mation als auch mit der nach der Revolution von 1848 aufblühend­en Staatsmach­t und der damit verbundene­n Obrigkeits­hörigkeit zu tun. Ein Duckmäuser­tum, das es bis heute gibt. Am allerschli­mmsten war natürlich der intellektu­elle Aderlass im Dritten Reich. Erst langsam erholt sich die Wertschätz­ung der Bildung wieder. Und auch ganz unabhängig von den Berufschan­cen, die Bildung bringt: Es gibt eigentlich keinen Bereich im Leben, wo es nicht gut wäre, mehr zu wissen.

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